Am Rücken des Atlantiks

Am Rücken des Atlantiks

April 29, 2018 0 Von claudia und jürgen
04. April 2018, 10:00 Uhr UTC
Südost 3-4 Windstärken, 0,5m See, 1014,6 HPa, +0,8 HPa/3h, leichte Passatbewölkung, 30°C. Kurs 320°, 5,5 Kn unter Großsegel und Genua 1, 122 SM/24h

Wie jeden Morgen auf See trägt Jürgen das Tagesetmal ins Logbuch ein, bevor er Kaffeewasser aufsetzt und darauf wartet, bis ich aus der Koje komme fürs gemeinsame Frühstück. Die Kost ist einfach: Selbstgebackenes Brot, frischen Kefir-Aufstrich mit Paprika und Chili, den ich letzte Nacht angerührt habe. Ein Stück Käse aus St. Helena, einen Apfel. Wir suchen ein Eckchen Schatten im Cockpit unterm Bimini und nehmen uns alle Zeit der Welt für das gemeinsame Morgenmahl.

Seit fünf Tagen zieht LA BELLE EPOQUE über die ruhige See, ohne Eile aber auch nicht ungemütlich langsam. Genau so schnell, dass wir weder besonders achtsam sein müssen, noch ungeduldig werden. Und weshalb auch ungeduldig werden? Das Leben in diesen Breiten auf Hochsee ist angenehm und gleichmäßig: Kein Wetterumschwung ist zu erwarten, keine Winddrehungen werden unsere Reise erschweren und kein Starkwind wird über uns herfallen. Wir segeln in den freundlichen Subtropen des Südatlantiks, wo der Passatwind gleichmäßig über das warme Wasser streicht und die Sonne vom Himmel lacht. Wir segeln in einem Gebiet, wo wir nicht einmal mit besonders starkem Schiffsverkehr rechnen müssen, keine bedeutende Schifffahrtslinie kreuzt unseren Kurs, kaum Fischkutter suchen nach Beute, keine Flugzeuge sind am Himmel auszumachen. Nur das allesdurchdringende Blau, die salzige Luft und die endlose Weite umgeben uns. Nur ein paar fliegende Fische heben sich hier und da aus den leblosen Fluten, nur ganz selten kreist ein Seevogel um unsere Masten. Ein Tölpel oder eine Seeschwalbe. Unsere Angel bleibt unnütz, der Köder zieht faul und unberührt durchs salzige Nass.

Doch heute ist ein spezieller Tag. Der Tag für eine besondere Begegnung auf Hochsee. Ein Blas unterbricht die Gleichmäßigkeit – eine einzelne Dunstwolke aus nasser Atemluft, welche die Begegnung mit einem Wal verspricht. Gespannt beobachten wir das Meer, konzentriert. Da, der nächste Blas, das Tier kommt näher, hält auf uns zu. Dann, nahe genug, um die ganze Szene gut überblicken zu können, schießt der eckige Kopf eines Pottwals aus einer Welle. Was für ein Anblick! Während der Kopf längst in den Fluten verschwindet, können wir nach und nach den Körper sehen, bevor die Schwanzflosse der letzte Teil des Tieres ist, der sich uns zeigt. Der Wal ist abgetaucht. Wie tief er wohl gehen wird? Wir haben mehr als zweieinhalb Kilometer Wasser unterm Kiel und rätseln, ob der einsame Pottwal wohl bis zum Meeresgrund tauchen kann. Erst eine halbe Stunde später werden wir weit achteraus die nächste Atemluft-Dunstwolke des Pottwals erblicken.

Einfach Leben. Wird die Sonne zu heiß, schütten wir uns gegenseitig Eimer voll Meerwasser über den Kopf. Der Wind trocknet die Haut. An das bisschen Salz, das zurückbleibt, haben wir uns längst gewöhnt. Die Tage verbringen wir im Cockpit bei einem Buch. Ab und zu hebt einer von uns den Kopf, sucht den Horizont ab. Die Genua ist ausgebaumt, ihre Schoten haben wir seit Tagen nicht mehr berührt. Nur das Großsegel halsen wir alle paar Tage, wechseln von raumen Kurs auf platt vorm Laken. Miss Aries geht Ruder, ein Tropfen Öl und gelegentliches Nachjustieren ist alles, was sie für ihre Arbeit verlangt. Morgen Nacht werden wir entspannt unser Ziel erreichen: die kleine Vulkaninsel Ascension mitten im nirgendwo am südatlantischen Rücken.

Die letzte Stunde vor der Ankunft gibt es noch reichlich Aktion an Bord. Wir haben die fischreichen Küstengewässer der Insel in der Abenddämmerung erreicht. Große Schwärme an Seevögel und vor gejagten Fischen kochendes Wasser lassen uns wissen, wo etwas zu holen ist. Doch unsere Bemühungen bleiben erfolglos. Zu groß sind die Jäger, die an unsere nachgeschleppten Köder gehen. Zu schnell segelt LA BELLE EPOQUE, zu schwer ist es, die ausgebäumten Segel rechtzeitig bei einem Biss an der Angel zu bergen und das Boot zu stoppen. Wir verlieren drei unserer besten Köder und geben irgendwann auf.

Stockdunkel ist es, als wir endlich die offene Ankerbucht von Georgetown erreichen. Die Empfehlung des Hafenamtes per Funk bezüglich des besten Ankerplatzes bleibt unbeachtet, zu schwer ist der Akzent für meine Ohren, um die Wörter zu enträtseln. Doch wollen wir ohnehin bei dieser Dunkelheit nicht zu dicht unter die Küste laufen, immerhin sind die Brecher am Strand und auf den Felsen deutlich zu hören und wir müssen mit unbeleuchteten Booten an Bojen rechnen. So fällt der Anker noch außerhalb des Bojenfeldes überbord, LA BELLE rollt leicht in der Dünung. Morgen werden wir dichter unter Land ankern, doch auch das wird uns nicht vor der langen Dünung schützen, die um die Insel und bis in die Ankerbucht von Georgetown zieht.

Wie bereits St. Helena verfügt auch Ascension Insel über keine wirklich geschützte Ankerbucht. In der Bucht von Georgetown – die einzige Bucht, in der geankert werden darf – rollen die Boote in der um die Insel laufenden Dünung. Richtig spannend wird es aber erst für jeden, der trockenen Fußes an Land gelangen will. Denn auch gegen den Landungssteg auf den Felsen waschen die ein, zwei Meter hohen Wellen. Mit guten Timing zwischen den Wellen und einer hilfsbereiten Hand eines Hafenarbeiters schaffen wir es dennoch bald, auf dem Trockenen zu stehen und das Dingi bis zu einer Boje zu ziehen, um es von dem Steg und den Felsen fernzuhalten. Im klimatisierten Büro der Hafenbehörde sind die Papiere schnell erledigt. Wir haben bereits in St. Helena unsere Visa für die Insel beantragt und werden freundlich empfangen, auch wenn Tourismus auf dieser Insel offensichtlich wenig erwünscht ist. Das am Morgen eingetroffene Kreuzfahrtschiff bekommt nicht einmal Erlaubnis, seine Gäste an Land zu bringen und zieht nach einer kurzen Rundfahrt um die Insel wieder weiter, ohne eine einzige Person an Land gebracht zu haben.

Was für eine eigenwillige Insel! Ein Land aus rauem, staubigen Vulkangestein, über dem die Luft in brütender Hitze schimmert. Antennenwälder, die beinahe wie Kunstwerke aussehen und der Vulkanlandschaft ein eigenartiges Flair verleihen. Eine BBC Weltradio-Station, britische und amerikanische Militäranlagen, eine Weltraumanlage. Radardome und riesige Satellitenschüsseln, soweit das Auge reicht. Ausgedehnte helle Sandstrände vor schwarzen Felsen, an denen sich das Meer bricht.

Dazwischen kleine Siedlungen mit einer bunt gemischten Bevölkerung, die doch nicht hier alt wird: Jeder, der auf Ascension Insel lebt, muss von hier abwandern, sollte er oder sie den Job verlieren. Und selbst jene, die hier geboren werden müssen die Insel spätestens dann verlassen, wenn sie in Pension gehen. Auch, wenn ihre Nachkommen auf der Insel verbleiben. Die Menschen kommen aus St. Helena, Großbritannien, Amerika.

Im Zentrum der Insel die Überraschung: Green Mountain – der grüne Berg. Ein Berg, dessen Hänge und Gipfel mit einer Vielfalt an den schönsten tropischen Blumen, Sträucher und Bäume bepflanzt wurde. In der Absicht, das Klima der Insel zu verbessern und eine immerwährende Regenwolke über dem Berggipfel zu erzeugen. Das Projekt „Cloud Forrest“ ist kein Kind der Neuzeit, bereits Charles Darwin und der Botaniker Joseph Hooker haben an der Veränderung des Klimas von Ascension Insel durch das Bepflanzen des Berges gearbeitet. Und zwar mit Erfolg. Täglich bläst der Passat die nasse Meeresluft die bewaldeten Hänge von Green Mountain hoch, bis der Dunst im üppigen Grün des Berges scheinbar hängen bleibt und die Insel mit frischem Trinkwasser versorgt. Nur hin und wieder frühmorgens ist Green Mountain ohne seiner typischen Dunstwolke zu erblicken.

Uns erscheint Green Mountain mit seinem kühlen Klima, ausgedehnten Wanderwegen, hübschen Pflanzen und herrlichen Ausblicken wie ein Herzstück der eigenwilligen Insel. Mit etwas Glück können wir das einzige Mietauto der Insel für einen Tag ergattern, um den weiten staubigen Weg bis an den grünen Gipfel schnell hinter uns zu bringen. Mit im Gepäck fährt unsere Marchette: Auf Green Mountain wachsen Bananenpalmen, die niemanden gehören. „Nehmt euch so viele Bananen, wie ihr wollt. Und falls ihr die Bananen selbst nicht erreichen könnt, hackt einfach die Palmen um. Sie sterben ohnehin nach der Produktion von einmaligen Bananen ab und genug neue Palmen spießen Jahr für Jahr!“ Die zehn Pfund für den Mietwagen hohlen wir uns leicht mit dem Wert der geernteten Bananen zurück, nachdem Jürgen drei Palmen niederstreckt.

Den Abend verbringen wir bei Reggie-Nacht in der amerikanischen Basis. Wir lernen die einheimischen Lydia und Paul kennen und verabreden uns für Sonntag Nachmittag zum Fischen an der Küste. Wieder bleibt unser Versuch, den Speiseplan mit frischem Fisch aufzuwerten erfolglos: Wir erhaschen nur einen kurzen Blick auf das Prachtexemplar von Fisch, bevor die Angelschnur reist!

Mittlerweile haben wir unser heikles Dingimanöver am Landungssteg ganz gut im Griff und nächtlichen Ausflügen auf die Insel steht nichts im Weg. Nicht, dass wir heiß auf die einzelnen Parties sind, die anscheinend immer in irgend einem Club der Insel stattfinden. Wir wandern im Dunklen über die Insel mit einem ruhigeren Ziel: den Strand. Es ist Hauptsaison für die großen Wasserschildkröten, die Nacht für Nacht mühevoll den Strand hochrobben, um im warmen Sand tausende Eier zu vergraben. Ein Spektakel, das nur mit Geduld beobachtet werden kann, läuft es doch im Schneckentempo ab. Erst wenn die Tiere in ihren tief gegrabenen Brutlöchern liegen und ihre Eier legen, können wir näher herantreten und ein paar Fotos schießen. Würden wir uns früher nähern, riskieren wir, ein Tier zu vertreiben und dabei die Eier zu verlieren. Die Entscheidung, wo die richtige Stelle für das zukünftig vergrabene Nest ist, scheint nicht so einfach zu sein und der lange Weg bis hoch auf den Strand dauert eine halbe Ewigkeit. Dann endlich beginnt ein Tier zu graben und wir können kurz die Taschenlampe anknipsen, um den Vorgang auch zu sehen und ein Foto zu schießen. Zurück bleibt ein Eindruck des Außergewöhnlichen. Der kurze Augenblick im Leben von ungewöhnlichen, bis 250 Kilogramm schweren Meerestieren, die alle drei bis vier Jahre über zweitausend Kilometer schwimmen, um den Sandstrand einer winzigen Insel zu erreichen. Erreichen sie den Strand, wiederholen sie bis zu zehnmal ihre Paarung und den anstrengenden Gang hoch auf den Strand, um jeweils die hundertzwanzig befruchtete Eier in den warmen Sand zu verbragen. Es wird ungefähr fünfzig bis sechzig Tage dauern, bis sich tausende Junge aus dem Sand graben und ihre Reise ins Meer starten. Überleben werden nur einige von ihnen, vermutlich nur ein Junges von tausend. Es wird in zwanzig bis vierzig Jahren selbst zum ersten mal zu seinem Geburtsstrand zurückkommen, um wiederum vom warmen Sand von Ascension Insel Nachkommen brüten zu lassen.

Mit den abziehenden Riesenschildkröten machen auch wir uns wieder auf die lange Reise über den Atlantik.