Auf und ab

Auf und ab

November 29, 2017 0 Von claudia und jürgen

Graue Schleier verbergen schwer und nass jede Sicht. Noch ist es frühmorgens auf den Falkland Inseln, kein Lufthauch ist zu spüren. Trotzdem haben wir gegen sechs Uhr früh die Leinen gelöst und tuckern aus der weitläufigen Bucht von Stanley Hafen. Unser Zeitfenster, um die Küste von Westfalkland zu erreichen, ist kurz. Neunzig Seemeilen bis zur geplanten Ankerbucht liegen vor uns, aber der Wetterbericht warnt bereits für die frühen Morgenstunden der kommenden Nacht mit stürmischen Westwinden. Zeit zum Trödeln haben wir keine.

Dennoch macht sich das schlechte Gewissen an Bord breit, schon zu Beginn dieser Reise auf den mageren Dieselvorrat zurückzugreifen. Um LA BELLE EPOQUE für ihre schwere Reise nicht noch mehr mit Gewicht zu belasten, haben wir darauf verzichtet, zusätzliche Kanister mit Diesel an Bord zu nehmen. Das Boot ist auch so schon überladen. Die Reise vor uns erlaubt keine weiteren Einbußen der Seetüchtigkeit. Wie auch der gestaute Proviant und das Propangas muss der gebunkerte Diesel für den Südsommer reichen. Ein kalter Sommer, in dem wir durch eines der schwersten Seegebiete der Welt – der Drake Passage südlich von Kap Horn – kreuzen und über Monate in den kalten Gewässern der Antarktis verbringen werden. Monate, in denen wir Diesel nicht nur für den Motor benötigen – um schweren Tiefdrucksystemen zu umfahren, zwischen Eisberge zu navigieren oder in unvermessene Ankerbuchten zu manövrieren. Der an Bord mitgebrachte Diesel muss uns auch durch die Kälte der Antarktis bringen und als Heizmaterial für unseren treuen Dieselofen dienen. Jeder Tropfen Diesel, den wir nun aufbrauchen, wird uns später fehlen. Nirgends werden wir mehr die Möglichkeit haben, die Tanks erneut zu füllen, es sei denn, wir legen einen Zwischenstopp in Chile ein. Auf unseren Weg in den Süden. Einen Zwischenstopp, den wir allerdings nicht einzulegen gedenken.

Eine leichte Brise zeichnet Muster auf die farblose Wasserfläche, die Segel gehen hoch. Der Wind nimmt stetig zu. Sobald unsere stählerne Lady ihr volles Segelkleid trägt, ist es auch schon Zeit, einen Teil der Segel zu streichen und zu reffen. Was mit Motorkraft in der Flaute beginnt, endet fünfzehn Stunden später unter vierfach gerefftem Großsegel und der Arbeitsfock bei stürmischen Wind. In Tamar Pass gräbt sich der Anker tief in den Schlamm. Es tut gut, der von Wind und Strömung aufgewühlten See entkommen zu sein.

Die Falklands sind flach, nichts schützt vor den fauchenden Wind entlang der baumlosen Küste. Die Wälder dieser Insel liegen unter Wasser: Wälder an Seetang, die über viele Meter in die Höhe wachsen und die Buchten füllen. Tang, das sich mit seinen breiten Blättern faul in der Dünung schwenkt. Seetang, das jeden Echolot zu sinnlosen Angaben verführt und jeden Anker auf die Probe stellt. Der neue Wetterbericht verspricht Orkan aus West mit Winden bis zu 11 Beaufort, wir wollen uns nicht auf einen Anker bei schlechtem Ankergrund verlassen. Wenige Stunden nachdem der Anker ausgebracht war, lichten wir ihn damit auch schon wieder. Es wird Zeit, LA BELLE EPOQUE sturmsicher zu verholen.

Vorsichtig tasten wir uns so nahe als möglich unter die Küste, bis wir mit dem gewählten Platz zufrieden sind. Nun setzen wir den ersten Anker. Jürgen lässt die Kette langsam ausrauschen, während ich vorsichtig rückwärts gebe. Sobald die Kette am Poller belegt ist, erhöhe ich nach und nach die Drehzahl. Vom Bug kommt Jürgens Handzeichen: Alles ok – der Anker hält. Nun steckt Jürgen mehr und mehr Ankertrosse. Ich steuere das Boot quer zum ersten Anker erneut dichter an die Küste. Vorsichtig und unter Jürgens wachen Blick, um ja nicht die Ankertrosse in die Schiffsschraube zu bekommen. Dann mein Handzeichen an ihn: ok – lass ihn fallen! Schon rauscht der zweite Anker aus. Ich lasse das Boot rückwärts treiben, während Jürgen die Kette steckt. Nun muss auch dieser Anker eingefahren werden, bevor wir vom Hauptanker die Trosse bis zum Kettenbeginn wieder einholen werden. Ich stelle den Motor ab und LA BELLE EPOQUE liegt bewegungslos hinter ihren im V ausgebrachten Ankern. Mit Hilfe dem Genuafall heben wir gemeinsam das Dingi von Bord. Jürgen springt ins Gummiboot und zieht sich zurück zum Heck, wo ich ihm das Ende der Schwimmtrosse reiche. Mit etwas Mühe paddelt er durch den dicken Teppich an Seetang, die grüne Trosse im Schlepp. Sein Ziel ist ein großer Felsbrocken am Ufer, um den er sein Ende der Trosse festzurren wird. Ich bringe in der Zwischenzeit das bordseitige Ende zum Bug, ziehe es durch ein Stück Feuerwehrschlauch um sicherzustellen, dass die Trosse nirgends scheuern kann, und belege das Ende einer freien Klampe. Fertig. LA BELLE EPOQUE liegt sicher an drei Punkten verholt. Nach einem knappen Jahr in Patagonien ist es für uns längst kein Aufwand mehr, sturmsicher zu ankern!

Es wird Tage dauern, bis wir weiterziehen können. Noch einmal kreuzen wir den Weg mit SANTA MARIA AUSTRALIS, die sich nach dem durchgezogenen Sturm ebenfalls zu den Westfalklands begeben hat. Schade, dass wir keine Ankerbucht teilen, ein gemeinsames Abendessen wird deshalb auf ein Treffen in der Antarktis verschoben. Durch den Pebble Sund müssen wir erneut auf unseren Dieselvorrat zurückgreifen, selbst tagelanges Warten hat daran nichts geändert. Zwischen den niedrigen Inseln pfeift entweder steifer Westwind gegen uns, oder der Wind schläft ein.

Dann ändert sich das Wetter. Leichte Winde füllen die Segel, fröhlich bunt glitzert das warme Sonnenlicht am Wasser, das Land riecht förmlich nach Frühling und Sommer. Traumhaftes Segelwetter bringt uns nach Westpoint Insel: unser schönster Stopp auf den Falklands. Die kleine Insel am äußeren Rand der Falklands wird von einem sympathischen Paar bewohnt. Bei Kaffee und Kuchen erfahren wir mehr vom Leben außerhalb der Siedlungen. Neben der Schafhaltung für Wolle ist mittlerweile der Tourismus das bessere Geschäft geworden. Um die fünfzig Kreuzfahrtschiffe werden die kommende Saison Westpoint Insel anlaufen. Die Kreuzfahrer werden – gegen eine kleine Gebühr – von Abby mit frischen Kuchen, Kaffee und Tee verwöhnt, nachdem sie die Wanderung zum Albatros-Felsen gemeistert haben. Ältere Gäste, die nicht mehr so gut auf den Füßen sind, werden von Rick per Landrover zur Brutstätte der großen Seevögel gefahren.

Die Brutkolonie der Albatrosse hoch über den Klippen an der Außenseite der Insel zieht auch uns magisch an. Die Albatrosse sind nicht alleine, unter ihren hoch aufgetürmten Nestern nisten besonders trollige Gesellen: die „Kleinen“ unter den Pinguinen – Rockhoppers – genießen den Schutz, den sie unter den Albatrossen finden. Hier können weder Skuas noch Sturmvögel die Eier oder Jungen der Pinguine stehlen. Gegen die größte Gefahr sind aber auch die majestätischen Albatrosse machtlos: die Hitze. Erbarmungslos brennt die Sonne auf die Brutkolonie herunter und den armen Pinguinen steht die Verzweiflung in die Gesichter geschrieben. Selbst wir als Beobachter können ahnen, wie sehnlich sich die Tiere um diese Tageszeit im kalten Nass des Ozeans verstecken möchten, doch die Pflicht und der Instinkt verhindern derart schlechte Elternschaft. So werden die Eier immer wieder mal „gelüftet“, es wird gehechelt und gefächelt, um die grausame Hitze des beginnenden Sommers zu ertragen.

Meine Empfindungen könnten nicht unterschiedlicher zu jenen der Pinguine sein. Nach dem Winter in Patagonien fühle ich mich, als hätte ich mein halbes Leben auf wärmende Sonnenstrahlen gewartet. Mir scheint, als kenne ich nur noch schreiende Winde, nasse, kalte Tage die einem bis in die Knochen schmerzen und zu weißen Klötzen gekühlte Zehen. Jede Zelle meines Körpers schreit nach Sonne, Wärme, Trockenheit. Die Tatsache, dass diese warmen Tage nur ein kurzes Zwischenspiel sind, dass wir uns auf den Weg in die Antarktis befinden und uns dem Frühling bald schon freiwillig entziehen, ist kaum zu ertragen. Wie verlockend ist es hier im gleißenden Sonnenlicht, den Bug einfach in den Norden zu drehen. Eine Woche segeln, und wir würden die schwersten Systeme hinter uns lassen. Eine einzige Wochen, und wir würden barfüssig auf Deck herumlaufen und eine Leichtigkeit verspüren, wie sie nur die warmen Passatwinde auf einem Segelboot hauchen können. Wer oder was zwingt uns eigentlich, von hier den Bug in den Süden zu drehen? Mit aller Kraft den harten Weg gegen den Wind zurück bis zur argentinischen Staaten Insel zu kämpfen, nur um den Schrecken aller Seefahrer zu Gesicht zu bekommen: die Drake Passage?

Niemand. Niemand zwingt uns zu einer Reise in den Süden. Niemand, ausser wir selbst. Wir haben keine Sponsoren, keine Verträge. Wir haben keine Verpflichtungen irgend jemanden außer uns selbst gegenüber. Es gibt keine Erwartungen von außen, die uns auf unortodoxe Reisen befehlen können. Kritisch frage ich nach: Ist aus meiner Veröffentlichung unserer Reisepläne über Internet eine Verpflichtung für uns gewachsen? Wollen wir aus den falschen Gründen das kalte Abenteuer Antarktis starten?

Abends spreche ich mit Jürgen über meine Gedanken. Und erfahre, dass auch er eine harte Zeit hat, hier „umzudrehen“. Nein. Es sind nicht Verpflichtungen oder aufgesetzte Gründe, die uns zu einer Reise in den fernen Süden bewegen. Es ist nur unsere Neugierde, unser Abenteuergeist, die immer noch heiße Liebe zur Natur. Unsere Entdeckungslust hat uns noch nicht verlassen. Vermutlich würden wir es uns nie verzeihen, würden wir hier und jetzt den Bug in den Norden drehen. Es sind nur zwei Kleinigkeiten, die uns kleine Zweifel ins Ohr flüstern: Es ist die Tatsache, dass wir schon ein bisschen lange unterwegs sind und hin und wieder das alte Europa vermissen. Und es ist die Tatsache, dass wir immer noch großen Respekt vor den wahrlich schweren Seerevieren dieser Welt haben. Man könnte auch sagen, das Wissen, was vor uns liegt. Denn vor uns liegt Schwerwetter, Anstrengung, Seekrankheit. Vor uns liegen harte Segeltage, schlechte Ankerplätze und der Kampf mit Eis und Fallwinden. Und wir währen wahrlich Übermenschen, würden wir keine Überwindung benötigen, um diese Gespenster von uns zu streifen. Dazu kommt, dass es sich hier auf den Falklands wie eine Umkehr anfühlt, nachdem wir ein wenig in den Norden gesegelt sind und ein paar Tage laues Frühlingswetter genießen konnten. Aber die Zweifel lösen sich so schnell auf wie sie gekommen sind, die Anstrengungen der Vorbereitung fallen von uns ab und endlich stellt sich Vorfreude ein.

Beaver Insel wird der letzte Stop auf unserer Falklandreise. Hier lernen wir Jerome Pochet kennen, eine Ikone der französischen Segelwelt und den „Urvater“ aller Yachtreisen in die Antarktis. Was für ein Kontrast, die Familie bei ihren jährlichen Farmarbeiten anzutreffen: kurzerhand helfen wir einen Nachmittag beim Schafschären mit.

Dann gibt der Wetterbericht so etwas ähnliches wie grünes Licht. Gut, zu viel darf man sich in dieser Gegend nicht erwarten. Will man keinen Diesel verschwenden, ist ein Wetterbericht, der von vierzig Knoten Halbwind spricht, eben gut genug. Ein nüchterner Eintrag ins Logbuch spricht mehr als alle Beschreibung: „Sehr raue Ausfahrt bei Gegenstrom zwischen Beaver Island und Weddell Island. Auch draußen bleibt die See rau, müssen hart am Wind halten, 3 Reff und Fock. Sehr Seekrank.“

Zweihundertundzwanzig Seemeilen später laufen wir erschöpft und bei Dunkelheit in den östlichsten Fjord von Staaten Insel ein. Die Seekarten sind ungenau und die massive Strömung um die Insel erschweren die Navigation, doch mit Hilfe von Radar, Mondlicht und vereinter Konzentration meistern wir auch diese Aufgabe. Bei fünfzehn Meter Wassertiefe geht schließlich der Anker auf Grund und wir staunen über die Schönheit dieser wilden Insel. Eine Schönheit, die wir bei Dunkelheit nur mit unseren Nasen erahnen können: denn der Wald um uns verströmt einen betörenden Geruch.

Noch in der selben Nacht fällt unsere Entscheidung: wir haben nicht zu viel Diesel verbracht und müssen keinen Umweg nach Puerto Williams in Chile fahren. Hier, San Juan del Salvamento auf den Staaten Insel wird unsere letzte Ankerbucht vor der Drake Passage sein. Nächster Stopp: Antarktis!