Aus Lust zur See, aus Laune zur Hölle

Aus Lust zur See, aus Laune zur Hölle

Dezember 20, 2017 0 Von claudia und jürgen

Ungewöhnlich laut knattert die Ankerrolle am Bug, Jürgen springt fluchend am Vordeck herum. „Nein, so bekommen wir den Anker auf keinen Fall hoch. Scheiß Kelp!“ Ich mag es nicht, wenn mit schwarzer Laune zu einer großen Fahrt aufgebrochen wird, schäle mich in meinen Parka und geh nach vorne um nachzusehen, was den eigentlich los ist. Die Ankerrolle ist durchgescheuert, nun zieht die Ankerwinde die Kette direkt über den Edelstahlbügel, auf dem die Rolle zum Schutz der Kette laufen sollte. Jürgen hat recht, so geht das nicht. Große Knoten an Seetang haben sich um die Ankerkette gewickelt und ziehen mit aller Gewalt nach unten. Bei diesem Druck scheuert der Edelstahlbügel die Zinkschicht auf der Kette, eine neue Ankerrolle muss her. „Das fängt ja schon gut an“, Jürgens Kommentar zum verpatzten Aufbruch in die Drake Passage. Aber der Ärger ist schnell behoben. Wir schäkeln eine Trosse an die Kette und spannen diese durch die Klüse am Bug, bis die Ankerrolle entlastet ist. Wenige Minuten später ist eine neue Ankerrolle montiert und wir können den Anker ohne weiteren Schaden lichten. Ohne Schaden heißt nicht problemlos: Über eine halbe Stunde hacken und schneiden wir am Seetang herum, während wir Meter für Meter die Kette an Bord winden. Gut, eine starke Ankerwinde zu haben, mit unserer alten, manuellen Winde würden wir vermutlich den halben Tag damit verbringen, den Anker los zu brechen.

Unter geringer Drehzahl laufe ich aus dem Fjord von San Juan del Salvamento, während Jürgen die Segel hisst. Zwischen den Bergrücken von Staaten Insel erreicht uns kaum eine Brise und doch zieht LA BELLE EPOQUE mit Rumpfgeschwindigkeit aus dem Fjord. Die Strömung um die Insel ist phänomenal, sie treibt nicht nur unser Boot voran, sondern wühlt auch die See ungemütlich auf. Das Meer um die Ostspitze von Staaten Insel muss reich an Nahrung sein, es ist voll von Leben: große Pinguinkollonien bevölkern die Küste, Albatrosse, Sturmvögel und Möwen ziehen ihre Kreise um LA BELLE. Kormorane fliegen in V-Formation dicht über dem Meer. Endlich kommt etwas Wind auf. Heute ist der siebte Dezember 2017 – und wir sind unterwegs! Wir haben nicht lange gewartet, die Saison für die Antarktissegler hat noch nicht wirklich begonnen. Doch es fühlt sich gut an, aufgebrochen zu sein. Aufgebrochen zu unserer Reise über die gefährlichste Meeresstraße zwischen Atlantik, Pazifik und dem Antarktischen Ozean: die Drake Passage!

Südlich der Staaten Insel empfängt uns eine ostsetzende Strömung mit geschätzten zwei Knoten. Wir müssen den Kurs vorhalten, fast hart am Wind segeln, um nicht zu weit in den Osten getrieben zu werden. Jede Höhe, die wir jetzt halten können, werden wir später benötigen, um nicht gegen die stürmischen Westwinden der Drake Passage halten zu müssen. Das Wetter hat sich zugezogen, zeigt sich wie erwartet: Mit anrollenden Regenböen und schlechter Sicht bei rauher See. Am AIS ist ein argentinisches Kriegsschiff zu sehen, ich bin froh, nicht mehr in der argentinischen Staaten Insel vor Anker zu liegen. Immerhin waren wir „illegal“ – also ohne argentinischer Genehmigung – in den Falkland Inseln. In Argentinien stehen darauf hohe Geldstrafen, auch wenn ihre Regelungen und diese Strafe international nicht haltbar sind und ihr Rechtsanspruch über die Falklandinseln und Südgeorgien unwahr sind. Unser Zwischenstopp auf der argentinischen Staaten Insel war zumindest in diesem Sinne ein Spiel mit dem Feuer und ich bin froh, die traumhaft schöne Insel im Kielwasser zu haben.

An Bord stellt sich bald schon der übliche Wachrhythmus ein. Es ist kalt und so verbringt die Freiwache ihre Ruhestunden in der Koje. Doch der Dieselofen bleibt ausgestellt, wir haben keinen überschüssigen Diesel an Bord und müssen sparsam damit umgehen. Mit jeder Seemeile in den Süden kühlt es weiter ab, bald laufen wir wie die „Migelinemännchen“ im Boot herum: Lange Unterwäsche, Fliecekleidung und darüber isolierte Overalls, doppelte Socken, Fäustlinge über Handschuhe, Fellhauben und isolierte Gummistiefel. Aus dem Regen wird Hagel. West-Nordwest Wind treibt uns mit sechs Beaufort voran. Das Meer ist dunkelgrau und abweisend, hebt uns mit seinen durchschnittlich vier Meter Wellen auf und ab, schmeißt uns wie einen Spielball herum, bis mir schwindlig ist. Doch wir können uns nicht beklagen, der gemeldete Starkwind für 8. Dezember wird uns nie erreichen und wir kommen unter Fock und Grosssegel gut voran.

Die Bordküche bleibt einfach: ein Glas Chili und etwas Reis, Spagetti mit vorgekochter Bolognas, Haferbrei oder Müsliriegel zum nächtlichen Wachwechsel. Dazwischen etwas Früchtetee zum Aufwärmen, übermüdet und leicht Seekrank wie wir uns fühlen bleibt die Kaffeekanne besser unbenützt.

Am morgen des dritten Tags beschenkt uns das Südmeer für unsere Mühen: Strahlender Sonnenschein, eine Brise mit 4 Beaufort aus West und warme sechs Grad Celsius. Eine Pause auf See, die wir mit vollen Segel nützen. Längst haben wir Kap Horn und das weit in den Süden reichende Kontinentalschelf hinter uns gelassen, die See hat sich mit vielleicht dreieinhalb Meter Wellenhöhe etwas beruhigt. LA BELLE EPOQUE zieht unter Groß, Besan und Genua 2 freudig dahin. Dieses Schönwetter ist nur ein kleines Zwischenspiel, das nächste Tief ist bereits im Anzug. Am 10. Dezember fällt der Barograph auf satte 965 Hektopascal, mit fallender Tendenz! Doch bleibt auch nun der Sturmwind aus. Die Vorderseite des Tiefs bringt uns viel Schnee und kalte Minusgrade. Zwischendurch wird aus dem Dunst leichter Nebel und wir lassen das Radar eingeschaltet. Noch sind keine Eisberge in Sicht, doch das soll nicht heißen, dass es hier kein Eis gibt. Die See erzählt von schwereren Bedingungen weiter im Westen – über fünf Meter schätzen wir die kalten Graubärte, die auf uns zurollen.

Dann zieht das Zentrum des Tiefdrucksystems über uns durch, leichte Winde helfen nicht, das Boot in der konfusen See zu stabilisieren und das Leben an Bord wir wackelig – gelinde gesprochen. LA BELLE fällt in der Waschküche umher, wird gestoßen und geschupst, gehoben und in die weiten Wassertäler gesenkt. Leichter Südwestwind mit zwei Beaufort bringt uns kaum unserem Ziel näher, doch der Barograph zeigt bereits einen steigenden Luftdruck und wir wissen, dass der Leichtwind nicht bleiben wird. So reffen wir bald wieder das Großsegel: Bei Flaute schlägt es weniger und der Starkwind von der Rückseite des Tiefs wird bald schon über uns herfallen. Die ersten Eisberge kommen in Sicht, die Gletscher der Antarktis sind in der kalten Luft beinahe schon zu erahnen. Mittlerweile steht unser Zielhafen fest: wir werden versuchen, die Melchior Inselgruppe anzulaufen. Beim Ablegen von der Staaten Insel haben wir uns das genaue Ziel noch offen gelassen, je nach dem, wohin uns der Wind bläst, haben wir drei verschiedene Ankerbuchten als mögliche Zielhäfen ausgesucht, mit Melchior als Favoriten. Immerhin kommt es auf den Wind an, welcher Ankerplatz am Besten zu erreichen ist.

Doch so bald sollten wir Melchior noch nicht sehen. Der Wind bleibt auf Südwest und nimmt zu. Sieben Beaufort blasen uns direkt auf die Nase. Lassen das Boot hoch am Wind hart arbeiten und machen das Leben an Bord miserabel. Bald schon haben wir die Nase voll, so erreichen wir ohnehin unser Ziel nicht, selbst unter Motor werden wir nur langsam gegen den Wind kommen. Über Funk laden wir neue Wetterkarten herunter: Nach dem Südwind ist Flaute und leichter Nordost gemeldet. Mit diesen Aussichten sind wir uns sofort einig: Beidrehen und abwarten. Sicherlich, so verlängern wir unsere Reise über die Drake Passage um wenigstens einen Tag, aber was macht das schon. Im Groß sind bereits drei Reff eingebunden, das Vorsegel können wir verstauen, die Ketsch kann unter Großsegel alleine beidrehen. Sofort werden die Bewegungen angenehmer, das Beidrehen gehört eben zu den Stärken unserer treuen LA BELLE EPOQUE. Unsere Wache müssen wir dennoch aufmerksam fahren: Eisberge treiben am Horizont verstreut und wir wollen keinem dieser kalten Giganten zu nahe kommen.

Geistesgegenwärtig drehe ich den Funk etwas lauter. In den Gewässern um die Antarktische Halbinsel tummeln sich die Kreuzfahrtschiffe. Ihre Crews sind treibende Segelyachten sicherlich nicht gewöhnt, fahren doch fast alle Yachten unter Charter oder mit „Gästen“ und damit nach engen, zeitlichen Terminen.

Im Laufe des Tages nimmt der Südwind ab, doch steht die See noch rau gegen uns, wir bleiben beigedreht. Dann ein Funkspruch: Das Kreuzfahrtschiff OCEAN PRINCESS hat uns entdeckt und will wissen, ob an Bord alles in Ordnung ist oder ob wir Hilfe benötigen. „Kein Problem, wir haben nur gestoppt zum Dinner!“ Kommt meine kecke Antwort und ein sympathisches kurzes Gespräch entwickelt sich. Das Schiff befindet sich bereits südlich von uns und so erzählt uns der Funker von den Eisverhältnissen, die er von seiner hohen Brücke aus überblicken kann. Wir tratschen über das Woher und Wohin, über die kommenden Ankerplätze. Dann wird uns eine schöne Reise gewünscht, der Luxusliner verschwindet am Horizont und wir sind wieder alleine in einer grauen, kalten See.

Mittlerweile wird es Nachts nicht mehr Dunkel. Es spielt keine Rolle, zu welcher Tageszeit wir die antarktischen Inseln erreichen werden. So hissen wir am späten Nachmittag das Vorsegel und schütteln die Reff aus dem Groß. Der Nordwind will nicht recht zunehmen und bald unterstützen wir die Segel mit Dieselkraft. Die Eisberge werden mehr und der Himmel klart auf. Die kalte Welt wird in die warmen Farben der Abendsonne getaucht – gelb und orange leuchtet der Himmel während die ersten schneeverwehten Berge rosa scheinen. Atemberaubend schön wird der erste Anblick dieses Landes. Zerklüftete, gigantische Eisberge treiben gemächlich in Richtung Ozean, dahinter erheben sich schneebedeckte Berge. Die Sonne steht tief und wärmt mein Gesicht. Irgendwann verschwindet sie für zwei, drei Stunden hinter einer Bergkette.

Ein paar Wale ziehen an LA BELLE EPOQUE vorüber, auch sie sind vermutlich gerade von einer langen Reise angekommen. Ich kann mich an der weißen Schönheit der Antarktis kaum sattsehen und lasse Jürgen etwas länger schlafen. Dann sitzen wir beide im Steuerhaus. Betrachten die majestätische Kühle von Brabante Insel und Amberes Insel, währen die Melchior Inseln langsam am Bug voraus Gestallt annehmen. Zwischen den Untiefen vor der Inselgruppe müssen wir um auf Grund sitzende Eisberge navigieren, die elektronische Seekarten scheinen etwas versetzt zu sein. Teilweise scheint die Schneedecke auf den Inseln fünfzig oder sechzig Meter hoch zu sein, einige Möwen kreischen über uns, Chinstrap Pinguine klettern auf den treibenden Eisstücken herum. Kormorane tauchen vor dem Bug ab. Wir entdecken das Seezeichen der wissenschaftlichen argentinischen Station auf der Inselgruppe und biegen in den Andersen Harbor ein. Dahinter trennt ein schmaler Sund die Inseln Eta und Omega, vorsichtig navigieren wir durch das seichter werdende Wasser und erreichen bald die kleine, ruhige Bucht zwischen den beiden Insel, die zu einem der besten Ankerplätze der Antarktischen Halbinsel zählt. Der Anker rauscht aus, das Dingi geht über Bord und während ich das Heck in Richtung Ufer manövriere rudert Jürgen die vorbereitete Landleine zu einem der großen Felsbrocken. Ich stelle den Motor ab, hinter unserem Heck geht die Sonne in einem Spektakel an Farben und Wärme auf.

Auch wenn es erst fünf Uhr morgens ist und wir uns müde und zerschlagen fühlen, ist es fast unmöglich, einfach so ins Bett zu gehen. Ein feierliches, zufriedenes Gefühlt hat sich breitgemacht. Wir hohlen eine Flasche Wein, ein paar Oliven und etwas frisches Brot, machen es uns im Cockpit gemütlich. „Wer aus Lust zur See fährt, fährt aus Laune zur Hölle“ haben die alten Seefahrer einst behauptet. Doch nun liegt die Drake Passage hinter uns, zumindest vorerst. Wir haben die Hölle unbeschadet überquert und ein kleines Paradies auf Erden gefunden: Willkommen in der Antarktis!