
Das Geheimnis des Südatlantiks
Langsam verliert sich das Dunkel der Nacht, macht Platz für ein farbenprächtiges Morgenrot. Das Meer ist beinahe glatt und ändert seine schwarze Farbe in ein tiefes Blau, eine leichte Brise füllt die Segel. Einzelne Wolken zeichnen eine Struktur in den Himmel, bringen die Morgenröte zur Geltung. Die Bugwelle rauscht fröhlich, La Belle Epoque zieht munter unter Vollzeug dahin. Ein Morgen, wie wir ihn die letzten Tage wieder und wieder erlebt haben. Aber nein, das stimmt nicht. Es ist ein spezieller Morgen, einer, wie kein anderer. Denn Bug voraus ist die Weite des Südatlantiks scharf unterbrochen. Bug voraus heben sich die dunklen Vulkanklippen einer weltvergessenen Insel aus den Tiefen. Bug voraus lieg ein kleines, subtropisches Paradis. Ein erloschener Vulkan, der sich aus fünftausend Meter Tiefe hebt und um die hundertzwanzig Quatratkilometer des weiten Atlantiks für sich einnimmt. Eine Insel, die ein beinahe vergessener Geheimspot ist und gleichzeitig weltberühmt für ihren kurzen Auftritt in europäischer Geschichte bleibt.
Beim ausgedehnten Frühstück im Cockpit runden wir die Südspitze von St. Helena, lassen die spitzen Felsen von The Needles hinter uns und legen Kurs nach Jamestown. Zwei kleine, offene Fischerboote arbeiten die weniger Tiefen Wasser voraus, unzählige Seevögel gleiten über das immer noch tiefblaue Wasser. Unter unserem Kiel muss reiches Leben herrschen. Die schroffe Insel zu Steuerbord blockt den Wind, La Belle Epoque treibt nur noch gemächlich vor sich hin. Die letzten Seemeilen müssen wir wohl unter Motorkraft laufen.
Doch noch bevor ich zum Startknopf greifen kann, sichtet Jürgen einen dunklen Schatten neben dem Boot. Ich springe ans Heck, halte den Blick aufs Wasser gerichtet und kann meinen Augen kaum glauben. Der Walhai kommt ganz nahe ans Heck heran, betrachtet uns und zieht einen Kreis hinter La Belle Epoque, Er ist so dicht an der Wasseroberfläche, dass seine Rücken- und Schwanzflosse aus dem Wasser ragt, sein breiter Kopf deutlich zu sehen ist. Magie liegt in der Luft. Jürgen springt ins Steuerhaus und kommt mit der Kamera in der Hand an Deck. Doch unser Besuch ist nicht besonders begeistert vom Fotoshooting und der dunkle Schatten verschwindet spurlos in der Tiefe.
Die paar Yachten im Bojenfeld vor Jamestown zeigen ihre bunten Flaggen: Südafrika, Frankreich, Kanada, Schweden, USA, Deutschland. La Belle Epoque ist hier in guter Gesellschaft. Wir bringen ein paar Fender aus und werden vom Wassertaxi abgeholt. Der Ankerplatz von Jamestown ist offen und rollig, per Dingi ist es nicht leicht, hier an Land zu kommen. Doch die „Saints“ – wie sich die Menschen von St. Helena selbst nennen – machen es besuchende Yachten dennoch so leicht als möglich. Massive Bojen für den kleinen Beitrag von zwei Pfund am Tag sichern die Yachten, während das Wassertaxi sicherstellt, das wir bequem an Land ankommen und unsere Dingis nicht an der Hafenmauer beschädigen. Der Hafenkapitän, Zoll und Immigration heißen uns willkommen und die Formalitäten sind in wenigen Minuten erledigt.
Beim Spatziergang durch Jamestown schwirrt mir der Kopf und es fällt mir schwer, die vielen Eindrücke zu begreifen und zu verarbeiten. Durch die Zeit am Meer ist unsere Wahrnehmung feingestimmt – jede Kleinigkeit wurde von uns registriert. Nun werden unsere Sinne fast überlastet. Licht, Farben, Formen, Bewegung, Geräusche, Gerüche, alles will auf einmal erlebt werden. Meine einfache, blaue Welt ist plötzlich kompliziert geworden. „Ich bin froh, nicht in einer Metropole gelandet zu sein, ich habe ja schon Konzentrationschwirigkeiten hier in diesem kleinen Nest!“ Jürgen lacht über meine Kopflosigkeit, gibt aber bald zu, dass es ihm nicht besser geht.
Jamestown, eine charmante Ansiedlung an alten Steinhäusern, beeindruckt vor allem durch seine Lage: Der Ort zieht sich durch ein tiefes Tal und bildet einen schmalen Streifen an Farbe mitten in trockenen, vulkanisch dunklen Felswänden. Auf den einspurigen Straßen grüßt man sich, stoppt für einen kurzen Tratsch oder winkt den vorbeifahrenden Autos zu. Die wenigen Touristen auf den Straßen reisen größtenteils an Bord von Yachten.
Doch abends merken wir nichts von den Yachten um uns. Alle Dingis sind in und auf den Yachten verstaut, die Wassertaxis machen das Zuwasserlassen der Beiboote unnötig. Auf uns macht das einen komischen, unsozialen Eindruck. Nach über einem Monat auf See und nur wenig Kontakt mit Seglern in den zuletzt besuchten Revieren brenne ich auf Kontakt und schon am folgenden Tag geht unser Dingi überbord. Von nun an düsen wir zwischen den Yachten umher, lernen die weitgereisten Segler kennen und werden zum Mittelpunkt am Ankerfeld. Bald schon hat beinahe jede Yacht ein Dingi im Wasser und die Einladungen springen zwischen den Yachten hin und her: Musik-Jamsession auf La Belle Epoque, Geburtstagsdrinks auf TinTin; südafrikanische Weinverkostung auf Peragrin und geselliges Thunfischessen auf Caprice. So stellen wir uns Ankerplatzleben vor! Außerdem werden wir zu waghalsigen Dingikapitänen und verzichten von nun an auf das Service des Wassertaxis.
Noch viel schöner als die gemütlichen Abende im Bojenfeld ist allerdings St. Helena selbst. Per Mietauto ziehen wir kreuz und quer über die Insel, wandern über die tropisch grünen Berggipfel im Inselzentrum und besuchen die wüstenartig trockene Ostküste mit ihren schroffen Felsen und wunderbaren Stränden. Auch dem letzten Wohnort von Napoleon statten wir einen Besuch ab und wandeln auf den Spuren ganz großer europäischer Geschichte. Aber nicht nur der kleinwüchsige, mächtige Franzose ist über die Insel geschritten. An großen Namen fehlt es auf der kleinen Insel nicht: Kapitän Bligh, Kapitän Cook, Charles Darwin oder auch Joshua Slocum.
Wir besuchen die großen Landschildkröten im Garten der Kanzlerin und erklimmen die 699 steinernen Treppenstupfen der „Jacobs-Ladder“. Ein Erlebnis, dass mich mit weichen Knien und dreitägigem Muskelkater beschenkt. Na ja, nach 35 Tagen auf See sind eben die Beinmuskel etwas weich geworden!
Zwischendurch gibts auch etwas Arbeit zu erledigen: Die hübsche Stahlyacht Morwenna hat auf ihren Weg hier her einen toten Wal gerammt und dabei eine Schweißnaht am Ruderquadranten beschädigt. Ohne langem Umschweifen helfen die Insulaner dem solosegelnden Südafrikaner, das Boot auf den Steg zu kranen. Ein Unterfangen, das trotz rolliger Bucht und engem Zeitplan äußerst professionell und problemlos abläuft. Nur der Schweißer der Insel ist mit beiden Händen in Arbeit versunken und hat kaum Zeit, die Reparatur rechtzeitig vorzunehmen. In wenigen Tagen kommt das Versorgungsschiff, bis dahin muss Morwenna wieder im Wasser sein, damit am Steg die Container abgeladen werden können. Kein Problem, meint Jürgen und zieht sich den Arbeitsmantel über. Zum Dank werden wir abends zum köstlich frischen Schwertfisch-Steak in „Ann´s Place“ eingeladen!
Die Tage verlaufen in sich. Sonnenschein, Freundlichkeit, herrlich leichtes Leben. Zwischendurch kühlen kurze Regenschauer die Luft und malen Regenbogen über den Himmel. Wird es zu heiß, tauchen wir ins kühle Nass. Ein Vergnügen, dem wir so lange nicht mehr gefrönt sind, dass wir es kaum aushalten, einen Tag nicht über die Seite zu springen. Und nicht nur der Abkühlung wegen, denn unter der Wasseroberfläche gibt es genügend zu sehen: Wir tauchen ein altes Wrack vor Jamestown und schwimmen mit Walhaie an der Nordküste der Insel. Ein Erlebnis, so wunderbar und erstaunlich, dass wir kaum noch aus dem Wasser steigen wollen.
St. Helena erweckt in uns das Gefühl, als wären wir in Urlaub und so wollen wir gar nicht mehr ans Ablegen denken. Die Tage vergehen und Jamestown gibt uns fast schon das Gefühl, als gehörten wir hier her. „Sind wir am Ende jetzt schon wieder Reif für die Südsee?“ Will ich von Jürgen wissen! Aber der lacht nur. Er weiß, wie sehr ich mich freue, eine schöne Segelpassage vorm Bug zu wissen und bald erneut den Nordatlantik zu erreichen. Wie ich darauf brenne, die Azoren zu entdecken und die europäischen Küste etwas besser kennen zu lernen. Wie schön ist es, zu wissen, dass die Welt noch so viel zu bieten hat und jede Küste vor uns immer wieder mit Neuem überraschen wird. Und wenn wir hier irgendwann die Trossen lösen, freuen wir uns auf die blauen Wogen vorm Bug, die Meeresschildkröten in Ascension, die Blumen in Horta und vor allem auf die reiche Kultur in unserer Alten Welt.