An kaum einen Ort der gemäßigten Breiten liegt Harmonie und Bedrohung so eng aneinander wie an beinahe allen Orten der hohen Breiten. Und wieso sollte unser Ankerplatz zwischen den Melchior Insel eine Ausnahme machen?! Eine Schönheit ist die Eiswand vor unserem Bug. Über fünfzig Meter hoch scheint die Schneedecke zu sein, die senkrecht über dem gesamten Ufer thront. Eine blauschimmernde, weiße Reinheit, die in den Augen blendet und dennoch den Blick auf sich zieht. Ein Kunstwerk, mit alten und neuen Schichten, weißen Formen, blauen Rissen und wilden Überhängen. Fels und Stein als Fundament, Kälte und Niederschlag als Baumaterial, Meer und Sonne als Bildhauer.
Aber so schön und friedlich die Eiswand voraus ist, so bedrohlich ist sie. Schwer trägt sich der Schnee unter dem Druck der Sonne. Große Eisbrocken hängen bedrohlich über den langen Abbruchkanten. Wenn die Schneemassen ins Wasser stürzen, können sie eine Mini-Tsunami auslösen. Es bleibt nur etwas schwer einzuschätzen, wie „Mini“ diese Mini-Tsunami ausfallen wird. Von befreundeten Yachten haben wir bereits davon gehört, wie sie von steilen Wellen von zwei bis drei Meter überrollt wurden, wie das Eiswasser über Deck spülte und die Landleinen brachen. Jede vernünftige Fahrtenyacht wird brechende See von zwei bis drei Meter schadlos überstehen, was aber, wenn die aufgeworfenen Wellen durch herabstürzende Eismassen höher ausfallen? Haben absackende Eiswände eine ähnliche Kraft wie Erdrutsche, die für die bisher höchsten gemessenen Tsunamis dieser Welt verantwortlich sind? Sollte man besser von hier ablegen, oder sind die Überlegungen selbst schon hysterische Übertreibungen?
Wir bleiben. Werden bald genug noch erfahren, das eine Flucht vor dieser stillen Bedrohung ohnehin zwecklos wäre: Entlang der Antarktischen Halbinsel gibt es praktisch keinen Ankerplatz ohne meterhohe Eiswände und abstürzenden Schneemassen. Anstatt abzulegen stapfen wir über die Insel zwischen LA BELLE EPOQUE und den verzweigten Wasserstraßen und Sunden der Antarktis. Mannshoch liegt der Schnee auf dieser Seite, immer wieder brechen wir fast bis zu unseren Hüften in die hell reflektierende Masse. Längst haben wir uns daran gewöhnt, zu jeder Tageszeit die dunklen Sonnenbrillen zu tragen. Die Sommersonne der südlichen Hemisphäre ist gnadenlos, selbst wenn sie von Wolken verdeckt bleibt.
Nun aber strahlt sie am tiefblauen Himmel, einzelne weiße Höhenwolken schweben über den steilen Granitgipfeln der antarktischen Halbinsel. Gletscherzungen, soweit das Auge reicht. Auf einem Granitfels legen wir eine Pause ein. Von hier aus können wir sowohl den Ankerplatz, als auch die Dallmann Bucht und die Gerlach Straße dahinter überblicken. Eisberge treiben gemächlich im stahlblauen Wasser, ein Kreuzfahrtschiff zieht sein Kielwasser durch die Straße. Eine zweite Yacht biegt in unseren Ankerplatz ein. Langsam erreichen die ersten Yachten der Saison dieses wilde Land. Der Neuankömmling ist kein Unbekannter. PELAGIC AUSTRALIS ist mehr als eine beeindruckende Fahrtenyacht – durchdacht bis ins letzte Detail und ausgestattet für den Charterbetrieb in den extremen Revieren. Wir haben die Yacht und seinen südafrikanischen Skipper Alec bereits in Südgeorgien wie auch auf den Falkland Inseln getroffen.
Tage später navigieren wir vorsichtig aus der Inselgruppe. Unter Leichtwindsegel geht es nur langsam in den Süden, doch der Wind zwischen steilen Bergkuppen und Gletschern bleibt tückisch. Wir kennen die Launen von Sundwinden und sind auf der Hut. Als der Wind im Schollaert Kanal einschläft, bergen wir besser Leichtwindgenua und Besansegel, während uns der Motor in die Gerlachstraße schiebt. Kleine, hackige See erreicht uns, dann legt sich LA BELLE hart über. Wir haben gut getan, die Segel zu streichen, nun steht der eisige Wind fauchend gegen uns. Mit klammen Fingern binden wir zwei Reff’s ins Großsegel und setzen die Arbeitsfock. Das Boot legt sich ins Geschirr und zieht hart am Wind den Eisbergen entgegen.
Mit sieben Knoten Fahrt kann man in diesem Seerevier das Wasser vor dem Bug keine Sekunde aus den Augen lassen, selbst einer stabilen Yacht wie der unseren könnte eine Kollision mit Treibeis schweren Schaden einfahren. Gemeinsam sitzen wir im Steuerhaus und navigieren durch das dichter werdende Eisfeld. Die Seekarten sind lückenhaft, unzureichend. Notizen früher hier gewesener Segler helfen weiter, gestrandete Eisberge sind wie Warnschilder zu lesen. Sie erzählen von Untiefen, von kaum aus dem Meer ragenden Felsen. Wir üben uns darin, rechtzeitig zu erkennen, ob ein Eisstück treibt oder sitzt. Dann taucht Cuverville Insel vor dem Bug auf. Ein Mantel aus Eisbergen umgibt die Insel. Wir bergen das Großsegel um die Fahrt etwas zu drosseln. Mit nur einem Segel ist es leichter, den Weg zwischen den Eisbergen zu finden. Dann springt der Echolot auf zwanzig Meter Wassertiefe. Zugegeben, das ist reichlich, doch ohne Angaben in der Seekarte, in einem Labyrinth aus Eis und mit immer noch fünf Knoten Fahrt können selbst zwanzig Meter unter dem Kiel schnell zu wenig werden. Jürgen schmeißt das Vorsegel und bleibt am Bug, um den besten Weg durchs Eis zu entdecken. Ich starte den Motor.
Nun führt der Kurs dicht an die kalten Giganten entlang. Desto größer ein Eisberg, desto sicherer ist das Wasser unter ihm tief genug für eine passierende Yacht. Desto höher ist aber auch die Gefahr, von kippenden Eisbergen versenkt zu werden. Wie erwähnt: Harmonie und Bedrohung!
Langsam motoren wir um niedrige Felsen. Sie markieren die Ankerbucht von Cuverville Insel. Wie von einer unsichtbaren Wand ausgesperrt ist der Wind eingeschlafen, wir haben keine Eile und loten in aller Ruhe den Ankerplatz aus, bevor wir das Grundgeschirr auf seinen Weg nach unten Schicken. Eine Landleine sichert die Yacht zu den Felsen. Der Motor geht aus und der Lärm der Nachbarschaft übernimmt.
Um die fünftausend Paare Gentoo Pinguine ziehen ihre Jungen in Cuverville auf, die Nestarbeiten laufen in Höchstform. Jeder Felsen, der aus dem Schnee ragt, ist bereits mit einem Nest belegt. Etwas Abwechslung scheint den Pinguinen willkommen zu sein: Neugierig werden wir von nun an in dieser Nachbarschaft als neue Attraktion gehandelt. Man schwimmt um uns, springt in der Bugwelle des Beiboots, bestaunt und kontrolliert die Landleine. Kaum an Land, läuft uns der erste drollig kleine Geselle entgegen. In der Aufregung stolpert er über seine eigenen, roten Füße und landet am Bauch im Schnee. Schon ist er wieder auf den Beinen, die Flügelstummeln (Schwimmflügel?!) aufrecht nach hinten gestreckt watschelt er uns entgegen. Wir bleiben stehen. Wer weiß, vielleicht will uns der kleine Gentoo ja von seinem Nest vertreiben. Bald steht fest, dass er uns keineswegs vertreiben will, hier gehts ums Kennenlernen!
Wir verbringen einen Tag bei den Gentoo Pinguinen. Sitzen auf einem Stein und beobachten sie beim Nisten. Gentoo sind treue Gefährten, rechtzeitig vor dem Nisten so gegen Mitte November treffen sie auf ihren altbekannten Plätzen ein. Und warten. Sie warten nicht auf irgendwen, sondern auf ihren Partner aus den Jahren davor. Dabei beginnen sie bereits, ihre Nester aus zusammengetragenen Steinen aufzutürmen. Ist der Partner eingetroffen, können die beiden Eier aufs Steinbett gelegt werden. Die Pinguine teilen sich die Arbeit. Im gleichmäßigen Tackt wechseln sich die Partner beim Brüten ab. Ganz so, wie wir am Segelboot unsere Wachen schieben. Wer am Nest sitzt, muss nicht nur die Eier warmhalten und gegen Raubmöwen schützen, sonder auch die Steine unter sich verteidigen und Diebe verscheuchen. Das ist garnicht einfach, sieht man doch nicht, was hinter seinem Rücken vorgeht. Auch die „Freiwache“ bleibt in dieser Zeit nicht untätig. Will man seinen Partner beeindrucken, wird man selbst zum Dieb. Mit vor Stolz gehobener Brust werden die vom nachbarschaftlichen Nestern gestohlenen Steinchen dem brütenden Partner gezeigt und vorsichtig an eine besonders gute Stelle am eigenen Nest gelegt. Es folgen ein paar zufriedene Trompetenpuster, ein Gurren und Strecken und auf gehts zum nächsten Diebeszug.
Noch betrachten wir das Steinchenbringen als Fleißarbeit. In einem Monate werden wir beobachten, wie wichtig die aufgetürmten Steinnester sind. Dann wird der Schnee an den Felskolonien großteils geschmolzen sein und – vermischt mit dem Guano tausender Tiere – einen stinkenden Matsch zurücklassen. Desto höher die Steinnester sind, desto trockener und sauberer werden die Kücken ihr unbeholfenes erstes Lebensmonat erleben – desto gesünder werden sie heranwachsen können.
Zwischendurch schlagen die pflichtenthobenen Pinguine den Weg zum Ufer ein, um etwas zum Essen zu fischen oder den Körper zu pflegen. Pinguine scheinen ihr Vollbad zu lieben. Sie drehen sich im Wasser herum, schrubben und picken an ihren Federn. Im Schneehang zwischen dem Ufer und der untersten Nester der Kolonie sind mittlerweile tiefe Wege ausgelaufen. Kleine „Schnellstraßen“ zum erfrischenden Nass.
Nicht nur zum Ufer verlaufen die Pinguinwege, sondern kreuz und quer. Obwohl die Pinguine auf ihren kurzen, übergroßen Füßen tollpatschig sind und immer wieder mal auf den Bauch plumpsen, scheint ihnen das Spazieren lieb. Vermutlich ist es ein schöner Ausgleich zur stundenlangen Bewegungslosigkeit beim Brüten. Nach Wachwechsel streckt sich der vom Nest erlöste Pinguin und macht sich nicht etwa direkt zum Meer auf, um Futter zu jagen oder der Hygiene zu frönen. Viele wollen sich erst einmal die Füße vertreten. Es werde die Schneehänge bestiegen oder dem Ufer entlang geschlendert.
Der Schnee um die Kolonie und entlang der Pinguinwege hat längst eine grüne Farbe angenommen, die Luft ist schwer, der Geruch erinnert an einen großen Putenmaststall. Nach Stunden bei der Kolonie können wir ihn nicht mehr ertragen und machen uns auf den Rückweg. Auch hat soeben ein Kreuzfahrtschiff in der Außenbucht den Anker gesetzt. Die ersten Zodiaks landen an der Küste. Vorerst bringen sie nur die Expeditions-Crew. Mit Fähnchen ausgestattet werden nun die Bereiche am Rande der Pinguin Kolonie markiert, in denen sich die Kreuzfahrgäste frei bewegen dürfen. So wird sichergestellt, dass die Gäste die Pinguine beobachten können, ohne sie zu sehr zu stören. Die Begegnung zwischen Kreuzfahrern und Seglern erleben wir in der Antarktis stets als freundlich. Gelegentlich kommt ein Zodiak oder zwei zum Tratschen neben unsere ankernde Yacht, oder ein paar Gäste paddeln in Kajaks ums Boot und knipsen Fotos. Dennoch sind wir nicht heiß darauf, die Kolonie mit hundert oder mehr Menschen zu teilen.
Diesesmal beobachten uns die Kreuzfahrer bei der Arbeit. Der neue Wetterbericht zeigt, dass wir besser noch eine Landleine ausbringen: Morgen schon wird uns die nächste Schlechtwetterfront erreichen. Die steilen Gipfeln der Inselwelt könnten durchaus gefährliche Fallwinde erzeugen.
Während der Nacht dreht der Wind auf Nordost und legt zu, bis LA BELLE an ihren Trossen zerrt. Landleinen, die an Felsen festgebunden sind, sind leider keine besonders zuverlässige Hilfe: Zu oft haben wir bereits tonnenschwere Felsbrocken verschoben oder die Schlaufen der Trossen unter ihnen durchgezogen. Und so bricht auch diesen Morgen die erste Landverbindung, indem die Trosse unter den Felsen durchrutscht. Die verbleibende Landleine hält LA BELLE quer zum Wind und der Druck auf den Anker ist bedenklich. Noch wird der Wind zulegen. Wir beschließen, die Landleine zu lösen und stattdessen lieber den zweiten Buganker zu setzen. So kann LA BELLE frei hinter ihren Ankern schwingen und den Bug in den Wind halten – die Belastung am Ankergeschirr wird ungleich niedriger sein, als breitseitig den Wind ausgeliefert zu bleiben. Doch ist der Wind bereits zu stark, um per Dingi an Land zu rudern und die Landleine vom Fels zu lösen. Das macht nichts, Jürgen löst die schwimmfähige Trosse bordseitig, sie ist fest mit dem Land verbunden. Wir können sie nach dem Sturm einsammeln.
LA BELLE dreht sich und zieht an ihrem Grundgeschirr, schon dampfe ich im möglichst großen Winkel zum Hauptanker gegen den Wind. Jürgen bereitet den permanent angeschlagenen Zweitanker am Bug vor und lässt ihn auf mein Zeichen ausrauschen. Kaum ist der Anker ausgebracht und belegt, erfasst uns die schwerste Böe, die wir jemals vor Anker erleben durften. Der Williwaw trifft zuerst den Bug, drückt ihn auf die Seite. Grob lehnt sich LA BELLE EPOQUE über. Für Sekunden ist es, als möchte uns der Wind zum Kentern bringen. LA BELLE kränkt und kränkt, das Seitendeck ist bereits unter Wasser, dann werden die Steuerbordluken unter die Oberfläche gedrückt. Von der Brutalität der Böe überrascht, falle ich von der Cockpitbank, am Vordeck krallt sich Jürgen am Seezaun fest. Dann hat LA BELLE die Ankerkette über den Meeresboden ausgezogen: Die Ketten spannen sich, ziehen den Bug zurück gegen den Wind. Mit einem Ruck richtet sich das Boot auf. Zitternd lehnt sich LA BELLE kurz auf ihre Backbordseite, doch schon ist der kraftvolle Fallwind durchgezogen. Das Ankergeschirr hat gehalten, nichts ist passiert. „Glaube nicht, dass ich den Zweitanker jetzt noch einfahren muss, der hält!“ Lass ich grinsend Jürgen wissen, der noch etwas schief am Vordeck steht. „Das müssen siebzig oder mehr Knoten Wind gewesen sein!“ Kommt seine Antwort. Später werden wir erfahren, dass eine Station in der Nähe Böen mit genau dieser Geschwindigkeit gemessen hat.
Äußerlich ist von dem durchgezogenen Williwaw nichts mehr zu sehen, dennoch haben die Sekunden von Sturmwind ein Chaos zurückgelassen: Die Kajüte war nicht seeklar: Ein Topf mit Essensreste von gestern, das Frühstücksgeschirr, Bücher und Polster liegen am Boden verstreut. Ein Glück, dass wir Fotoausrüstung und Laptop stets sturmsicher stauen.
Ein Kanister mit zehn Liter Salzwasser hat sich in der Pantry freigebrochen, seinen Inhalt über die Anrichte verschüttet. Um Trinkwasser zu sparen, füllen wir diesen Kanister außerhalb der Ankerplätze und weitab der Pinguinkolonien mit sauberen Seewasser, das zum Händewaschen, Zähneputzen und für die Abwasch verwendet wird. Nun werde ich extra Trinkwasser aus den Tanks verbrauchen, um die Kajüte von dem umherschwappenden Salzwasser zu säubern. Wortlos fluche ich über unsere Schlamperei, der Kanister sollte eigentlich immer festgebunden sein.
Für Stunden werden wir weitere Böen über uns ergehen lassen müssen, während Schnee und Hagel aufs Deck prasselt. Doch der Nordostwind kommt nicht ganz ungelegen. Am folgenden Morgen ist er zu einer leichten Brise abgeschwächt, wir sammeln unsere Landleine ein, lichten den Anker und navigieren langsam unter voller Besegelung dem nächsten Ziel entgegen: Waterboat Point. Doch werden wir diese Bucht nie erreichen. Eis versperrt die Einfahrt der seichten Ankerbucht und nach halbherzigen Versuchen drehen wir ab. Dann feiern wir eben Weihnachten in Port Lockroy!