Ein Loch voller Mythen

Das Rauschen der Bugwelle nimmt zu, weiß schäumen die Wasserwirbel rund ums Boot. LA BELLE taumelt im Geschwindigkeitsrausch. 11 Knoten, 12 Knoten, das Ruder benötigt konstante Aufmerksamkeit, um den Bug auf Kurs zu halten und nicht im wirren Tanz den Verwirbelungen der Wasseroberfläche zu folgen. Flott ziehen wir am Leuchtturm von Corran Point vorüber, dann ist der Spuk vorbei. Die Bugwelle verebbt zu einem leichten Plätschern, LA BELLE benötigt keine besondere Hilfe mehr, um ihren Kurs zu halten und die Geschwindigkeitsangaben am Bildschirm beruhigen sich. Lang und unspektakulär streckt sich Loch Linnhe vor uns, das kleine Loch, das uns ins Herz von Schottland, zum Eingang des Kaledonischen Kanals, führen wird.

Etwas über eine Stunde und sieben Seemeilen später hohlen wir die Segel ein und lassen den Anker ausrauschen. Gut ist der Ankerplatz nicht, aber das Wetter sollte halbwegs ruhig bleiben und so wird der Platz seinen Zweck erfüllen.

Wir rudern zum Pier, binden das Dingi fest und tauchen in die Einkaufstraße von Fort Williams ein. Touristen säumen die Fußgängerzone und die Auslagen lassen uns wissen, das Fort Williams auf seinen Besuch aus der ganzen Welt vorbereitet ist. Feilgeboten werden Scot-Whiskeys, Regenschirme in grünen oder roten Schottenkaro, mit blauen Flaggen bedruckte T-Shirts, Bilder von zotteligen Hochlandrindern, Schaffelle und Geschenkpackungen mit Whiskey-Tees und Lemon-Curds. Zwischen den Souvenirshops bewerben Pubs ihre Biere zu traditionelle Schottengerichte und einige Outdoor-Ausrüster verkaufen ‚Wanderschuhe und Regenjacken ab.

Wanderschuhe und Regenjacken – zwei Utensilien, die hier offenbar zur Grundausrüstung jedes Touristen zählen sollte. Wanderschuhe, weil wir uns nicht nur am Anfang des berühmten „Great Glen Trecks“ befinden, sondern auch am Fuße des „Ben Nevis“ – dem höchsten Berg von Schottland und seinem dazugehörenden Tal „Glen Nevis“. Ein Gebiet, das über weitläufigen Wanderrouten und sehenswerte Naturschönheiten verfügt. Und eine Regenjacke, weil wir mittlerweile wissen, dass es sinnlos ist, auf durchgehend trockene Sommertage zu warten und auch bei schönsten Wetter eine Regenjacke immer griffbereit sein sollte.

Aber wie geht doch dieser alte, unnütze Spruch: „Die Hoffnung stirbt zu letzt!“? Auch die kommenden Tage sind tieffliegende Regenwolken vorausgesagt und wir wollen unsere Hoffnung noch nicht sterben lassen. Wir beschließen, auf besseres Wetter zu warten, bevor wir unsere Reise ins Herz von Schottland fortsetzen. Denn vor uns liegt der Kaledonische Kanal. Ein Kanal, der uns bequem mit dem Boot durch die berühmten Lochs vom „großen Tal“ – dem Great Glen – bringen wird und uns den Weg zur Ostküste Schottlands versüßt. Ein Kanal, in dem wir ab Eintritt sieben Nächte inklusive bleiben dürfen und der uns an seinem Ende ins salzige Wasser der Nordsee entlassen wird. Ein Kanal, der durch das schönste Gebiet der Highlands führen sollte, eine Landschaft, die wir gefälligst im warmen Licht der strahlenden Sonne erleben möchten. Außerdem hat sich vor einer ganzen Weile Phil bei uns gemeldet. Der Amerikaner an Bord seiner NESS, dem kleinen stählernen Gaffelsegler, den wir vor Jahren in Patagonien getroffen haben, nachdem er drei Monate am Südmeer verbracht hatte. Phil hat uns vor geraumer Zeit geschrieben, dass er seine Reise über den Atlantik starten wollte um uns hier, am Eingang des Kaledonischen Kanals zu treffen und die Fahrt durch die neunundzwanzig Schleusen, die vier Seen – die vier Lochs – Seite an Seite mit LA BELLE EPOQUE zu unternehmen.

Und so warten wir. Und warten. Die Tage vergehen, der Regen kommt und geht und kommt zurück. LA BELLE rollt vor Anker umher und lässt sich geduldig als Hintergrundmotiv der Touristenselfies nützen. Nur von Phil ist nichts zu hören. Er muss wohl gerade am Atlantik sein, was sonst könnte seine komplette Funkstille heißen? Noch machen wir uns keine Sorgen um ihn, immerhin gehört Phil zu den Urgesteinen, die weder Wetterberichte noch e-Mails auf Hochsee empfangen können und deren Ozeanpassagen schon alleine aufgrund der fehlenden Wetterberichte unmöglich lange Zeit in Anspruch nehmen können.

Doch irgendwann werden wir ungeduldig. Und dann stirbt auch noch die Hoffnung auf herrliches Wetter. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass wir hier und heuer keine Woche ohne Regen erleben werden, ganz egal, wie lange wir noch warten wollen. Und was soll´s, „It´s only rain“ hat uns der freundliche Schleusenwart bei unserem Spaziergang zu den ersten Schleusen wissen lassen. Worauf warten, meinte er, der Sommer ist jetzt!

Und so befragen wir die Gezeitentafel, und heben kurz vor Hochwasser den Anker aus dem Schlamm und tuckern zur ersten Schleuse. Die Salzwasserschleuse von Corbach wartet bereits mit offenen Toren auf uns. Während wir einlaufen und festmachen folgen uns weitere Yachten. Neben LA BELLE EPOQUE macht eine französische Aluyacht fest, dahinter läuft ein Brite mit Freedom-Rigg ein. Hinter uns steuert eine deutsche Motoryacht in die Schleusenkammer. Sie ist die Sommerresistenz zweier gut gelaunter Pensionisten, denen das Segeln über die Weltmeere mittlerweile etwas zu anstrengend geworden ist, die aber dennoch nicht auf ihre Bootsreisen verzichten wollen. Gut gemacht, denken wir, weshalb stur beim Segeln bleiben, wenn die Welt auf so viele Arten entdeckt werden kann!

Die Schleuse entlässt uns ins Süßwasser des schottischen Wasserwegs, und schon ist unsere Fahrt für diesen Tag wieder beendet. Wir wollen alle sieben Tage, die wir für unseren Eintritt von rund 300 Euro bekommen, nützen. Der Kanal ist insgesamt zirka 60 Seemeilen lang. Eine Strecke, die uns aufgeteilt auf eine Woche täglich nur wenige Seemeilen abverlangt. Wir machen am Ende der Corpach Basin fest, achten darauf, genug Platz zu lassen – für das deutsche Motorboot, für das nach uns geschleuste Dampfschiff VIC 32, das wir bereits von den Ankerplatz auf Jura Insel kennen, und für ein Kanalkreuzfahrtschiff, dass für den Abend angemeldet ist.

So dauert es nicht lange, ist unser kleiner Hafen voll belegt. Während die Gäste vom Kreuzfahrtschiff in Busse umsteigen, schlendert der Kapitän zu uns. Nicht nur LA BELLE EPOQUE ist ihm ins Auge gestochen, der alte Salzbuckel hat während seines Anlegemanövers hinter uns die Pinguine auf Jürgens T-Shirt bemerkt. Kann es sein, dass wir mit diesem Segelboot die Antarktis besucht haben? Will der aufgeschlossene Kapitän wissen. Er selbst ist viele Jahre ein Versorgungsschiff ins Eis gefahren, um die ehemals britischen Antarktisstationen von Port Lockroy und die ehemalige Faraday Station (die heutige Vernadsky Station der Ukrainer, an die wir uns nur zu gerne zurückerinnern) zu versorgen. Bald schon schwelgen wir in den Erzählungen über den eisigen Kontinent, seine wilden Gewässer und seiner wundersamen Tierwelt. Wieder regt sich in mir das Gefühl, dass die eisige Welt wohl keinen seiner Besucher unberührt lässt. Was für ein Rätsel es doch ist, das jene Gebiete, die uns am stärksten herausfordern, doch auch immer jene bleiben, die uns am meisten faszinieren! Doch ist es zur Abwechslung einmal ganz angenehm, dass diese herausfordernden Landschaften nicht vor dem Bug, sondern im Kielwasser liegen.

Erst am folgenden Morgen geht es für uns weiter. Die erste Strecke durch den Kaledonischen Kanal wird von einem Zeitplan diktiert, denn die Schleusentreppe aus acht Schleusen, die nun am Programm steht, muss mit der Drehbrücke der Eisenbahn abgestimmt werden. Als ideal gilt, dass die Schleusenkammern des „Neptun Staircase“ gerade mit Boote gefüllt sind, wenn am Vormittag die Dampflokomotive „The Jacobite“ seine mit Touristen aus aller Welt gefüllten Waggons im Schritttempo vorüberzieht. Und so werden wir zur Touristenattraktion, während wir schwitzend im löchrigen Ölzeug unsere rote Stahllady per Hand von Schleuse zu Schleuse weiter ziehen.

Eineinhalb Stunden sind wir beschäftigt, bis wir LA BELLE EPOQUE die acht Schleusenkammern um insgesamt 20 Meter über den Meeresspiegel und in den Kanal nach Loch Lochy gehoben haben. Ein paar Seemeilen motoren wir durch den ruhigen Kanal zwischen dichtem Grün entlang beider Ufer. Wir passieren eine weitere Drehbrücke, werden über eine weitere Schleuse wenige Meter nach oben gehoben und machen am Schwimmsteg am Eingang zum See fest.

Wie entspannend es doch ist, ohne Strömung, ohne Seegang und ohne schweren Wetterkapriolen durchs Wasser ziehen zu können. Hier im Landesinneren erreichen uns die schweren Tiefdrucksysteme vor der Küste nur mit schwachen Winden, wofür die Landreibung verantwortlich sein sollte. Fast luxuriös erscheint es uns, alle paar Seemeilen einen weiteren Anleger zu wissen, der uns zur Verfügung steht und an dessen Uferweg ein kleines Holzhäuschen mit gepflegten Duschen, Waschmaschinen und Toiletten wartet.

Loch Lochy – was so viel wie „See Seechen“ heißen könnte – liegt bald hinter uns, ein kurzes Kanalstück bringt uns weiter in den schönen Loch Oich. Nun liegt das schönste Stück des Kaledonischen Kanals vor uns. Weinrot und gelb leuchten die wilden Blumen entlang der Ufer, dahinter erheben sich sattgrüne, stattliche Bäume: alte, knorrige Eichen zwischen Weiden und Birken, eingerahmt von dunkelgrünen Nadelgehölz. Die Berghänge, in die das große Tal eventuell übergeht, wurden von Gletschern geschliffen und glänzen frisch und dunkel nach den dauernden Regengüssen, die immer wieder mal niedergehen. Alte Burgruinen heben ihre gebrochenen Steinmauern aus dem Wald, hier und da ziert ein kleines schottisches Häuschen das Ufer. Segelyachten mit bunten Flaggen, langsam reisende Motoryachten, auf Charter spezialisierte Kanalboote und gemietete Hausboote voll urlaubenden Familien kreuzen unseren Kurs. Kajakfahrer ziehen langsam den Ufern entlang und bauen abends ihre Zelte am Ufer auf. Am berühmten Wanderweg entlang des Kanals wechseln sich Radreisende mit Wandersleuten ab. Der Umgangston ist freundlich, man winkt sich, hilft sich mit den Trossen am Steg und tratscht über das Woher und Wohin. Wir lernen eine gemütliche Mischung aus Einheimischen, Urlaubern und Weltreisenden kennen. Nur „Wee Oichy“, der kleine Bruder von Nessy mit schwarzer Haut, drei Buckeln und pferdeartigem Kopf, will sich uns nicht zeigen.

In Fort Augustus müssen wir noch einmal eine Schleusentreppe bezwingen. Doch geht es hier bereits Talwerts und so ist die Schleusung nicht besonders anstrengend. Zahm lässt sich LA BELLE EPOQUE durch die Schleusen bringen, ohne an ihren Trossen zu zerren oder sich gegen das Weiterziehen in die nächste Schleusenkammer zu stemmen. Gut so, sind wir doch hier am Eingang zu Loch Ness und damit im touristischen Herzen der Highlands angekommen. Hunderte Touristen umringen uns während der Schleusung, schießen Fotos und bombardieren uns mit Fragen. Fünf Schleusenkammern und eine Drehbrücke müssen wir bezwingen, bis sich vorm Bug das sagenumwobene Loch Ness öffnet.

Mittlerweile hat sich das Wetter verschlechtert und die vielen Touristen haben ihr Interesse an den durchziehenden Yachten verloren. LA BELLE zieht in den zweitgrößten und tiefsten See Schottlands. Ein langgezogener, durch Gletscher entstandener See, der durch einen Fjord aus grünen Hügeln zu beider Seiten liegt. Ein See, der weder durch Form oder Schönheit auffällt, aber dennoch weltbekannt ist, soll er doch Heimat des vielleicht sogar charmantesten Seeungeheuers der Welt sein. Ein Seeungeheuer, das ohnehin von Bootsladungen an Touristen herumgescheucht wird – wenn auch nur mental, denn tatsächlich zu Gesicht hat Nessie wohl noch keiner bekommen. Was lange noch nicht heißt, dass fehlende Sichtungen und neuerliche Forschungsergebnisse von Genforschern oder ähnlichen Unfug genug Beweis sein könnten, dass Nessie nur in den Köpfen der Schotten herumschwimmt.

Wer weiß aber schon, welche Ungeheuer der Tiefsee im Laufe der letzten Jahre unseren roten Rumpf am Dach ihrer Heimat bereits geduldet haben? In stillen Einvernehmen, uns gegenseitig in Ruhe ziehen zu lassen. So halten wir erst gar nicht lange Ausschau nach dem legendären Wasserdrachen und ziehen unter Motorkraft gegen den leichten Wind und unter mittlerweile tiefhängenden, nassen Wolken dahin, bis wir den eher langweiligen See hinter uns gebracht haben.

Erst in Loch Dochfour klart der Himmel wieder auf und grüßt die vom vielen Regen blank gewaschene Yacht im letzten Teil des Kaledonischen Kanals. Noch haben wir zwei verbleibende Tage, die wir im Kanalwasser verbringen dürfen und so machen wir im Hafen von Seaport in Inverness fest. Unseren Plan, ein Mietauto zu nehmen und eine kleine Runde durch die Highlands zu drehen, vereiteln uns vorschriftengetreue Schotten. Das per Internet reservierte und bezahlte Mietauto bei Thrifty Rental Car erhalten wir nicht, da wir der starrsinnigen Mitarbeiterin der Autovermietung kein Flugticket aus Schottland vorlegen können. Die Firmenvorschriften verlangen ein Vorzeigen von Flugtickets von internationalen Kundschaft, so lässt sie uns wissen. Dass wir weder international, sondern Bürger der EU sind, noch dass wir ohnehin nächste Woche per Schiff abreisen, kann die junge Schottin überzeugen. Ich koche vor Wut, kann ich es doch nicht leiden, wenn mir jemand immer wieder versichert, sie könnte mir nicht helfen, wenn sie in Wirklichkeit nur nicht helfen will. Die Versicherung, dass wir innerhalb von zehn Tagen unsere im Vorhinein bezahlte Mietgebühr aufs Konto rückerstattet bekommen würden, hat sich als Lug herausgestellt.

Zum Glück bleibt die unfreundliche Schottin in Inverness nicht unser letzter Eindruck von Schottland. Über eine ruppige Nordsee ziehen wir zum äußersten östlichen Rand Schottlands weiter. Und werden in Peterhead mit herzlicher Freundlichkeit empfangen. Nach ein paar Stunden Wartezeit im Fischereihafen lässt uns der Hafenmeister wissen, dass nun die Flut lange genug im Einsatz war, um uns über die Untiefe in der Einfahrt zum Yachthafen zu lassen. Wir verbringen Tage eingeweht in Peterhead, wo wir Abende mit Segler verbringen und bei wechselnden Wetterbedingungen zum alljährlichen BBQ der Marina eingeladen werden. Dann zeigen die Wetterberichte rückdrehende und etwas abflauende Winde. Wir fühlen uns bereit, den wiederkehrenden Regen und die grauen Reihenhäuser von Schottland hinter uns zu lassen. Und setzten die gerefften Segel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert