Gastfreundschaft am Ende der Welt

Gastfreundschaft am Ende der Welt

Januar 15, 2018 0 Von claudia und jürgen

Beinahe perfekt ist die Bucht von Port Lockroy auf den Seekarten: Im Norden schützt die beeindruckend schöne Wienke Insel vor den furiosen Winden, an der Nordwest-Flanke der schneeverhangene Tombstone Hill. Im Westen der Ausblick auf den herrlichen Neumayer Kanal und auf Jogler Point im Süden die geschäftige Pinguinkolonie. Port Lockroy ist groß genug, um im seichten Wasser vorm Harbour Gletscher Schiffe jeder Größe Platz zu bieten oder im engeren Alice Creek kleinere Boote aufzunehmen.

Kein Wunder, dass der Platz bis ins erste Drittel des letzten Jahrhunderts bei Walfängern als wichtiger Hafen wohlbekannt war. Dann kam Argentinien und erklärte die Bucht – und mit ihr gleich die ganze Antarktische Halbinsel – zu argentinischen Hoheitsgebiet. Ein Anspruch, der noch im selben Jahr die Briten auf den Plan rief: Sie erschufen kurzerhand „Base A“ – eine ganzjährig bemannte meteorologische Station in Port Lockroy. Doch die Station wurde nicht lange betrieben, schon 1962 wurde sie dem Verfall preisgegeben. Traurige Jahre folgten: Nach den Richtlinien des Antarktischen Vertrages war es nicht nötig, die Überreste von wissenschaftlichen Stationen zu entfernen, sie blieben einfach als „Denkmal“ zurück. In den Neunzigern kam es endlich zu großen Aufräumaktionen und die geschäftige Pinguinkolonie, die sich mittlerweile ihren Brutplatz um die aufgelassene Station wieder zurückerobert hat, konnte aufatmen. Alte Dieselfässer, Schrott und Müll wurde entfernt, das historische Brandsfield Haus restauriert und das kleine aber feine Museum von Port Lockroy wurde eröffnet. Heute ist die ehemalige Station, die große Bucht und mit ihr auch die Pinguinkolonie zur gerne besuchten Attraktion der Antarktis geworden: Kreuzfahrtschiffe und Yachten gleichermassen stoppen den kurzen Sommer über um das Museum zu besuchen.

Doch Ende Dezember ist etwas zu früh in der Saison, um den Ankerplatz von Port Lockroy zu preisen. Noch ist die halbe Bucht von ihrer winterlichen Eisfläche bedeckt, täglich brechen große Schollen von der Eisplatte ab, kratzen und rumpeln an der verankernden LA BELLE EPOQUE entlang. Es wird Zeit, den historischen Hafen hinter uns zu lassen und ein Stück weiter zu ziehen.

Vorm leichten Nordwind breitet LA BELLE EPOQUE ihre Segel und dreht den Bug in den Süden. Die Sonne spiegelt sich am glatten Wasser, während sich das Boot langsam aus dem Neumayer Kanal schiebt. Wie weiße Perlen leuchten die unzähligen schneeverhangenen Inseln voraus, bald schon sind sie nur noch schwer von den vielen Eisbergen zu unterscheiden, die sich mit der Strömung träge auf den Weg in den Norden machen. Das Treibeis wird dichter – eine Mischung an Eisberge, Growler und einjähriges Packeis. Bald streichen wir das Großsegel, es ist besser, etwas Fahrt aus dem Schifferl zu nehmen.

Vor Booth Insel verlassen wir den breiten Kanal, biegen in das enge Gewässer zwischen den Inseln, Schären und Untiefen ein. Und desto enger die Fahrwasser werden, desto wunderbarer wird die Reise. Ruhig schwimmt eine Familie an Walen zwischen den Eisbergen, kreuzen unseren Kurs nur wenige Meter voraus. Die Tiere scheinen kaum einen Muskel zu benützen, um langsam an uns vorüber zu ziehen. Umso mehr Energie versprühen die spielenden und springenden Pinguine. In großen Gruppen umkreisen sie das langsam segelnde Boot. Versprühen pure Lebensfreude, wenn sie wie kleine Torpedos aus der Wasseroberfläche brechen oder mit einem Satz auf die Felsen der umliegenden Ufer springen. Kormorane fliegen in Gruppen dicht über der Wasseroberfläche und der Ruf der Möwen hallt über unseren Köpfen.

Wieder ist der geplante Ankerplatz mit einer dicken Eisdecke bedeckt. Weddellrobben liegen auf den weißen Flächen und heben hin und wieder ihre Köpfe, um uns bei unserer Suche nach einem guten Platz entlang der Eiskante zu beobachten. In einem kleinen Kanal von Hovegaard Insel zwischen Ufer, Felsen und Eisdecke werden wir fündig und lassen den Anker ausrauschen.

 

Grandios, aber auch bedrohlich thronen die Gipfel und Gletscher von Booth Insel vor uns. Eine Aussicht, die feiste Fallwinde vermuten lässt und uns dazu motiviert, das Boot lieber bestmöglich zu verankern, um auch beim gemeldeten Schlechtwetter sicher verholt zu bleiben. So spannen wir unser Spinnennetz: Suchen große Felsen, um die wir Ketten legen und spannen die langen Schwimmtrossen von allen Himmelsrichtungen bis zum Boot. Stunden später betrachten wir verschwitzt unser Werk: Solange die Eisdecke vorm Bug nicht in zu großen Platten aufbricht und sich in unsere Trossen verheddert, ist LA BELLE selbst bei Orkan in Sicherheit.

So dick kommt es aber garnicht. Nach zwei Tagen stürmischen Winden geht die Reise in den Süden weiter.

Bald werden die 4/10 Eisbedeckung zu 7/10 und es ist gut, auf Erfahrung mit Eis zurückblicken zu können. Wir wissen, was wir La Belle zumuten können und kämpfen uns weiter. Langsamer und langsamer wird unsere Fahrt durchs Eis, größer und größer werden unsere Umwege. Doch ein Funkspruch lässt uns vorwärts kämpfen: Längst haben uns die Wissenschaftler der Ukrainischen Station Vernadsky entdeckt. Als erstes Schiff der Saison heißen sie uns willkommen und hoffen, dass wir ihnen einen Besuch abstatten. Seit zehn Monaten ist die Crew bereits in der Antarktis. Zehn Monate, in denen sie keine weitere Menschenseele gesehen haben. Mit ihrem freundlichen Zuspruch, es bis zu ihrer Station zu versuchen haben sie nicht nur unsere Neugierde geweckt, sondern auch unseren Abenteuergeist. Ob wir es schaffen können, die erste Yacht der Saison zu sein?

Erst gegen elf Uhr Nachts verankern wir uns vor der Station. Eine winzige Bucht zwischen schneeverwehten Felsen muss als Ankerplatz reichen. Wir setzen Anker und spannen Landleinen, beobachten skeptisch das viele Eis, dass bald schon an unserer Bordwand kratzt. Eine Untiefe versperrt tieferreichendem Eis den Eingang in unsere kleine Bucht, das muss reichen. Per Funk verabreden wir uns für Morgen und wünschen eine gute Nacht.

„Welcome! Welcome!“ Die halbe Crew der Wissenschaftler ist bereits am Zodiak-Landungssteg versammelt, Hände reichen nach der Dingi-Trosse, wir werden umarmt, lachend wird uns der Weg in die Station gewiesen.

Die sympathischen Ukrainer können uns ihre wissenschaftliche Station mit Stolz zeigen: Sauber und gepflegt geht es hier zu, die wissenschaftlichen Arbeiten sind umfangreich und werden mit Gewissenhaftigkeit durchgeführt. Hier war es, wo zum ersten Mal das Ozonloch entdeckt wurde und bis heute werden atmosphärische Messungen betrieben. Es werden Informationen über die Ionosphäre gesammelt und Daten in viele Institute der Welt weitergegeben. Meteorologen arbeiten an Beobachtungen von Niederschlägen und Klimaentwicklungen, Biologen beobachten Veränderungen in der Tierwelt, Ozeanologen messen Tiden und Wasserstände, Langzeitbeobachtungen von Eisverhältnissen und Schneemassen werden dokumentiert und magnetische Messungen werden gemacht. Und während diese Arbeiten laufen, wird die Station von den zwölf Männern selbst gewartet und gepflegt: So sind die Gebäude neu gestrichen, die Landungsbrücke wird gerade mit neuem Holz eingedeckt. Selbst während der wenigen Freizeit, die den Wissenschaftlern bleibt, stehen sie nicht still: Ein Meteorologe mahlt kleine Tierportraits auf Holz als Souvenirs für die Kreuzfahrtgäste, die hier ab und zu vorbei kommen, ein Biologe fertigt kupferne Anstecker in Form der Antarktis. Der „südlichste Souveniershop der Welt“ ist gefüllt mit kleinen Andenken, die ihresgleichen suchen: geschnitzte Holzpinguine, T-Shirts, die selbst designed wurden, von den Familien zuhause gestrickte Antarktismützen und hübsch verpackte Proben von antarktischen Meersalz. Der Stationsmediziner hat seine freie Zeit damit verbracht, ein altes, halb versunkenes Holzboot zu restaurieren und mit Mast und Segel zu bestücken. Wir werden die ersten sein, die mit Sascha auf seiner CALYPSO die Bucht vor der Station besegeln.

Die Messungen und Projekte fordern durchgehende Beobachtungen. So arbeiten die Wissenschaftler in Schichten, selbst während der Nacht wird Wache gefahren und gearbeitet. Das heißt aber auch, dass meistens jemand anderer einige Stunden Freizeit hat. Eine Zeit, in der man sich nun um uns kümmert. Alex nimmt uns mit zur Skitour zu den Messanlagen, Vladimir heizt die Stationssauna für uns. Bodya verwöhnt uns mit ukrainische Leckerbissen aus seiner Küche und Bogdan, der begabte Folk-Musiker, gibt uns ein Privatkonzert. Jeder einzelne von den Wissenschaftlern ist bemüht, uns einen schönen Aufenthalt zu machen und ukrainische Gastfreundschaft zukommen zu lassen. Bald schon wird aus diesen Bemühungen eine ehrliche Freundschaft: Es gibt keine Person auf der Station, die wir nicht in kürzester Zeit ins Herz schließen. Abends werden wir in die berühmte Bar unterm Dach der Station geladen. Der Vodka fließt, doch es geht zivilisiert zu: Ein Teil der Wissenschaftler verabschiedet sich um zu arbeiten, die restlichen Ukrainer erzählen über ihre Familien, über die Antarktis oder die Ukraine.

Silvester wird zum besonderen Fest: Tagelang waren bereits die Vorbereitungen zum Festessen im Gange und das Fest besteht aus mehreren Teilen. Am frühen Abend werden wir zum traditionellen Essen geladen: es gibt ukrainische Fischgerichte, eine Auswahl an Fleisch und Sülze und sogar selbstgemachte Würste. Kartoffelbeilagen, hausgebackene Brötchen mit Kaviar. Dazu Wein, Sekt und Vodka. Das Festessen hat einen gehobenen, festlichen Charakter: die Wissenschaftler sind in Anzügen samt Krawatte gekommen, zu jedem Glas Vodka wird eine Ansprache gehalten, die besten Tischmanieren werden gepflegt.
Nach dem Mahl werden ausgesuchte Filmaufnahmen des vergangenen Jahres präsentiert. Und wir staunen: Auch LA BELLE EPOQUE zieht über den Bildschirm – die Wissenschaftler haben tolle Luftaufnahmen während unserer Ankunft gedreht. Aufnahmen, die uns als Geschenk überreicht werden.

Später in der Bar geht es legerer zu: Jürgen und ich werden zu Gevaterchen Frost und seine Nichte, die selbstgemachte Geschenke der Wissenschaftler austeilen und aus dem gepflegten Fest wird ein spaßiger Abend voll wilden Tanz und ausgelassener Feier.

Bei so viel Gastfreundschaft wollen auch wir uns gebürtig bedanken. Wir erfahren, dass die Biologen damit punkten würden, wenn sie neue Pinguin-Nistplätze finden könnten. Doch die Station verfügt nicht über die Boote, ausgedehnte Fahrten zum Packeis weiter südlich unternehmen zu können. Zwei Tage nach Silvester wird deshalb LA BELLE EPOQUE zum wissenschaftlichen Instrument: Frühmorgens nehmen wir drei Biologen an Bord und lichten den Anker. Unser Ziel: einige Inseln weiter im Süden. Bald geht die Reise nur noch langsam voran. Immer noch ist es so früh in der Saison, dass es noch keine andere Yacht bis zur Station geschafft hat. Nur durch unsere ausreichende Erfahrung mit Treibeis können wir es wagen, LA BELLE EPOQUE weiter und weiter ins Eis zu treiben. Immer wieder müssen wir zwischendurch stoppen und Vladimir an die Mastspitze hieven. Dreißig Meilen weiter kann auch er kein freies Wasser mehr entdecken. Jürgen wird nach oben gezogen. Zurück an Deck fällt er die Entscheidung: wir müssen umdrehen: Selbst wenn wir näher an die nächste Insel herankommen, bleibt es unmöglich, mit dem Dingi bis ans Land zu gelangen.

Dennoch wird die Reise ein Erfolg: an einer anderen Insel kann eine neue Kolonie untersucht werden, während wir sechs Stunden lang treibend im Eis warten.
Auf der Rückfahrt erklärt Artem, dass es durchaus bemerkenswert ist, dass sich Gentoo Pinguine neue Brutplätze suchen. Die Population dieser Pinguinart wächst während andere Arten wie die Adelaide Pinguine nicht diesen Trend folgen.

Erst am folgenden Morgen erreichen wir erneut die Station. Eine anstrengende aber spannende Eisfahrt liegt hinter uns und wir wissen nun: Von hier an werden wir den Bug nicht mehr weiter in den Süden drehen.

Irgendwann erreichen weitere Yachten die Station. Die russische Charteryacht RUSSAK AURORA und eine französische Privatyacht gehen vor Anker. Die holländische Barke EUROPA und ein Kreuzfahrtschiff besuchen die Station. Der Ansturm ist fast etwas viel für die einsamen Wissenschaftler und für uns ein Signal, unsere Weiterfahrt zu starten.

Jeder nimmt sich Zeit, uns zu verabschieden und noch einmal werden wir mit kleinen Geschenken und besonderen Andenken überhäuft. Wir mögen als fremde Reisende gekommen sein, doch gehen wir als Freunde und mit dem Vorsatz, einmal den Bug ins Schwarze Meer zu drehen um unsere ukrainischen Freunde in ihrer Heimat zu besuchen und ihre Familien bei uns an Bord willkommen zu heißen. Wir verteilen unsere Kontaktdaten und Adresse, doch wird die wirtschaftliche Lage unserer Freunde wohl kaum Reisen nach Österreich erlauben und die Hoffnung, ihnen einmal ihre Gastfreundschaft zurückzugeben, bleibt gering. Wie gerne würden wir dem jungen Mikrobiologen und Ozeanologen Artem helfen, seinen Traum zu erfüllen, ein wissenschaftliches Jahr in Deutschland oder England zu erleben. Doch alles was wir tun können, ist ihm mit Bücher und Filme bei seinem Eigenstudium der deutschen Sprache zu unterstützen.

Dann pflügt LA BELLE EPOQUE erneut durch das Treibeis. Die Segel gehen hoch. Unsere Gedanken hängen immer noch bei unseren Freunden in Vernadsky, während wir gemächlich durch den schönsten Sund der Antarktis, die Lemaire Straße, in den Norden ziehen.