Zeit. Was genau bedeutet Zeit eigentlich noch? Die Uhr im Steuerhaus zeigt fünf Minuten vor halb Sieben. Morgens oder abends? Das wissen wir nicht und es spielt auch keine Rolle mehr, denn die Schiffsuhr im Steuerhaus ist irgendwann stehen geblieben. Sie zeigt diese Uhrzeit seit Monaten.
Zu Beginn hat mich diese stehende Uhr irritiert. Immerzu ist es kurz vor Halbsieben, wenn ich einen Blick darauf werfe. Wann haben wir abgelegt? Und wie viele Stunden sind wir schon unterwegs? Um welche Uhrzeit werden wir voraussichtlich ankommen?
Kann die Uhrzeit auch abseits eines Berufsalltags so wichtig sein?
Obwohl das Zählen der Zeit immer nur zwei Reaktionen zur Folge hat: Stress oder Langeweile.
Stress. Es ist schon wieder halb Acht, wollten wir nicht um Sieben ablegen? Und: Es sind immer noch zwanzig Seemeilen zum Ankerplatz, und wir haben schon zehn Uhr abends durch, sollten wir nicht langsam den Motor dazunehmen und schneller werden?
Langeweile. Oh, wir sind erst zwei Stunden unterwegs. Dann dauert es ja immer noch mindestens sechs lange Stunden, bis wir ankommen. Kann es überhaupt sein, dass die Uhr plötzlich eine gemütliche Fahrt zu so etwas wie eine Wartezeit verkümmert hat?
Irgendwann aber hat sich die Zeit von den Angaben auf Uhren losgelöst. Die Uhr ist zum sinnlosen Dekoelement verkommen und die Zeit hat aufgehört, davonzulaufen.
Wieso auch sollte die Zeit davonlaufen? Wir bewegen uns in einer Uferlosigkeit aus lauer Brise und Sonnenschein. Zeitlos. Ununterbrochen.

Die Sonne trotzt der Uhrzeit und legt längst keine nächtlichen Pausen mehr ein. Das Hochdruckgebiet über Island hat sich zur nördlichen Schildwache aufgeplustert, es leitet jeglichen Wolkentreiber und Tiefdrücker ab in Richtung Mitteleuropa. Wir schwimmen in einem glatten Inselmeer, in dem sich die Sonnenstrahlen glitzernd spiegeln und vergessen beinahe, was Zeit eigentlich bedeutet.
Unser Leben an Bord ist gleichmäßig ruhig geworden, ohne dabei langweilig zu sein.

Gestern sind wir mit den Motorrädern die Atlantikstraße gefahren. Ein schöner Ausflug, aber eigentlich gefallen uns die Schären vom Deck aus besser. Vor allem, an einem so schönen Segeltag wie heute. Die See ist auch im ungeschützten Bereich abseits der Schären ruhig, der Wind ist heute umso lebendiger. Mit ausgebaumten Segel rauscht La Belle wie ein Schmetterling dahin.
Es ist ein letztes Aufgebaren des Windes. Die Fahrt sollte unsere letzte Rauschefahrt bleiben, bevor der Wind für diesen Monat endgültig einschläft. Wir beschließen, dennoch weiterzuziehen. Notfalls eben unter Dieselkraft. Es wäre zu schade, die vielen Plätze voraus nicht bei Sonnenschein zu sehen, während wir auf Wind warten.

Am Eingang vom Trondheimfjord bremst uns der Ebbstrom aus. Wir gehen vor Anker und warten ein paar Stunden auf bessere Bedingungen. Unser Ziel ist diesmal nicht die Hansestadt Trondheim. Wir kennen sie und wissen, wie schön sie ist. Unser Kurs führt uns bis ans Ostende des Fjordes, nach Stjørdal. Dort werden wir unseren alten Segelkumpanen Louis treffen. Louis, der uns vor Jahren durch die Nordwestpassage begleitet hat. Louis, mit dem wir viel gelacht haben. Louis, der meine Erfahrungen als Proviantmeisterin auf eine schwere Probe gestellt hat.
Ich bin neugierig, wie es ihm seither ergangen ist. Aber ich muss zugeben, ein bisschen skeptisch bin ich auch.
Die letzten Jahre sind ab und zu sonderbare Äußerungen von Louis zu uns durchgedrungen. Nachrichten von christlichen Wundern, zum Beispiel. Oder die zusammenhanglose Frage, zu welchen Zweck wir eigentlich immer noch durch die Welt segeln.
Viel Kontakt hatten wir allerdings nicht. Aber wir wissen, dass Louis kurz nach unserer gemeinsamen Zeit in der nordamerikanischen Arktis hier in Norwegen geheiratet hat. Dass er und Frøidis mittlerweile eine Horde Kinder haben und eine Farm in der Gegend von Trondheim betreiben.

Der Hafen von Stjørdal mit seinen freundlichen Mitgliedern, seinen gepflegten und großzügigen Gästesteg und seinen hübschen Clubhaus gefällt uns. Dazu ist die Lage des Hafens gerade ideal. Tief im Fjord gelegen und ohne hohe Bergketten verspricht der Hafen durchschnittlich eher ruhigere Wetterbedingungen. Dazu die Lage direkt beim Flughafen. Stjørdal sieht nach einem idealen Winterhafen für LA BELLE EPOQUE aus.
Bald schon klopft Louis samt Familie an die Bordwand. Herzlich ist die Wiedersehensfreude, LA BELLE EPOQUE wird bis in ihr Innerstes bestaunt. Louis scheint, als würde er am liebsten auch sie umarmen wollen.
Dann brechen wir auf zum Bauernhof.
Und schon wieder scheint die Zeit anderen Regeln zu folgen. Wir machen einen Zeitsprung. Fühlen uns um Jahrhunderte zurückversetzt. Auch wenn es sowohl ein Auto wie auch einen Traktor auf der Farm gibt. Irgendwie vermittelt der kleine Hof den Eindruck, in biblische Zeiten zurückzuwollen.
Am Hof gibt es Ziegen, Kühe, Kaltblutpferde, Hühner, Gänse, Katzen, Hunde. Es gibt Wiesen, Wälder, einen kleinen Erdäpfelacker. Felder in dem Sinn fehlen, genauso wie eine Erwerbsfähigkeit.
Hinterm Stall liegen landwirtschaftliche Geräte für Zugpferde aus Urgroßvaters Zeit: Ein einschariger Pferdepflug, ein Kartoffelsetzer wie aus dem Heimatmuseum. Dazu neue Ackerbaumaschinen für den Pferdebetrieb von Amish People, die Louis von einer Amerikanerin bekam.
Louis hat Ideen und setzt diese um. Immer wieder ändert er seine Ideen, versucht etwas anderes. Die Werkstatt wurde zum Schweinestall, dann zum Lagerplatz. Kurze Zeit gab es Schlittenhunde, mit seinem Wissen um Hundetraining bildete er später seinen Collie zum agilen Hirtenhund.
Die Farm wurde zum Ziegenmilchbetrieb, dann wieder schmiss er fast alle Ziegen samt neuer Melkanlage raus. Er spielt mit dem Gedanken, die in Norwegen wertlosen Brabanter-Pferde zu züchten. Er folgt dabei Eingebungen, Vorlieben.
Er ist von der Überzeugung geleitet, seine Familie zu versorgen, ohne dabei Kapital zu erwirtschaften. Ich benötige eine Weile, bis ich seine Haltung verstehe.
Der Gedanke, dass jemand eine Farm in völliger Ablehnung von finanziellem Einkommen betreiben will, kommt mir nicht. Ich sehe Kosten, die gedeckt werden müssen. Eine neue Scheune, eine Käserei. Ein Traktor der Diesel und Service benötigt, eine Heizung, die gefüttert werden will, Stromkosten. Anschaffungen, Tierarztkosten, Grundsteuern, Bau- und Servicematerial. Wie soll das gehen?
Als wir in Louises Käserei ankommen, wo Gourmetkäse langsam reift, sehe ich den Wert der Käselaibe und versuche, mir die finanzielle Lösung vorzustellen. Ich frage Louis, ob sich der Käse gut verkaufen lässt und ob er versucht, die Produktion gewinnbringend zu erhöhen. Louis reagiert beinahe sauer auf meine Frage. Es geht nicht ums Geld, sondern um den Käse. Er sorgt gut für seine Familie.
Am reich gedeckten Tisch zum Abendessen erklärt mir Frøidis, wie gelobt sie leben. Andere Haushalte können sich derartige Spezialitäten – frische, sehr leckere Milchprodukte, eigenes Fleisch und vor allem unglaublich leckeren Käse – sicher nicht täglich leisten. Louis sorgt sich aber so gut um die Familie. Mittlerweile habe ich begriffen, dass der Hof auch deshalb überlebt, weil Frøidis nach Trondheim zur Arbeit fährt.
Zurück an Bord klingt der Besuch bei Louis und seiner Familie bei mir nach.
Meine Skepsis vorab war unnötig. Louis ist auf seine Weise der liebenswerte Romantiker geblieben, den ich einst in der Nordwestpassage kennengelernt habe. Er ist immer noch jemand, der seine Überzeugungen inbrünstig lebt und sich weder von Mittelmaß noch von Vernunft leiten lässt. Auch bin ich im dankbar, dass er uns seine Überzeugungen ehrlich und leidenschaftlich erzählt, ohne dabei die Absicht zu zeigen, uns zu bekehren.
Zurück im Hafen steht bald fest, dass wir Louis und seine Familie bald wieder sehen werden. Denn wir haben die Zusage bekommen, dass der Hafen von Stjørdal kommenden Winter Platz für uns hat.
Vorerst aber werden wir noch ein Stück weiter in den Norden ziehen.