Nordkurs beeindruckt immer wieder. Mit jeder Seemeile weiter in den Norden wird es rauer, dunkler, wilder. Das Land, wie auch das Meer. Die Küste und die Berghänge.
Alles ist nass. Die Wälder dampfen, Flüsse schießen als Wasserfälle von den Hängen. Der Himmel öffnet immer wieder seine Schleusen und sorgt dafür, dass das Wasser niemals versiegt. Die Luft ist schwer mit kaltem Dunst.

Wir sind bei Stadlandet angekommen.
Ganz nach norwegischer Art ist das „Vestkapp“ zwar nicht ganz das westliche Kap von Norwegens Festland, so wie das „Nordkapp“ auch knapp neben dem geologischen nördlichsten Kap liegt.
Aber Stadlandet, alias „Vestkapp“, ist eben das spektakulärste Kap an der Westküste. Und beeindruckend ist es wirklich. Zumindest für uns Salzbuckeln. Liegt es doch an dem wahrscheinlich windigsten Küstenabschnitt Norwegens.
Oder anders gesagt: Die meteorologischen Instrumente des Leuchtturms von Kråkenes melden an über hundert Tage im Jahr Sturm und an den Fenstern des 45 Meter über dem Meer stehenden Leuchtturmhauses klopft regelmäßig die Gischt der Kreuzseen. „Nature at its best“ meint dazu der Werbeslogan des Leuchtturmcafés.

Wir wollen hier nicht die geballte Kraft der Natur erleben und suchen uns ehrfürchtig eine ruhigere Wetterlage für die Überquerung des Stadhavet – des Meers von Stad.
„Ruhig“ fühlt sich dann doch eher rau an. Wir laufen bei leichtem Gegenwind unter Motor aus. Bald ist Jürgen schlecht, während ich mich am Steuerrad festhalte. Unsere Planung passt, der Wind dreht und ich setze die Genua. LA BELLE eilt ums ungemütliche Kap, biegt Stunden später in den kleinen Fischerhafen von Fonsavåg ein.

Geschafft.
Den Abend verbringen wir an Bord von LEKA. Wir haben Gesche und Olav vor vielen Jahren in der Ostsee kennengelernt, als sie uns nach Ausfall unseres Dingi-Außenborders abschleppten. Es ist schön, die beiden wiederzusehen.
Übermorgen ist Mittsommernacht, gerade in Skandinavien ein gefeierter Abend. Gesche erzählt uns von einer Doku, die sie vergangenes Jahr einmal zum Thema gesehen hat. Laut dieser soll ausgerechnet Ålesund, eine Stadt, die im Laufe ihrer Geschichte einem Großbrand zum Opfer gefallen ist, Mittsommer mit einem extremen Feuer ehren.
„Slinningsbålet“ – das Slinningsfeuer – ist das höchste Mittsommerfeuer der Welt. Hoch wie einen Kirchturm stapeln die Jugendlichen der Stadt das Feuerholz auf der kleinen, vorgelagerten Schäre Slinning. Ohne Kran reichen sie Hand über Hand tausende Paletten und unzählige Fässer in die Höhe, bis ihr Feuerholzturm nur noch mit Klettergeschirr erklommen werden kann.

Bei 47,4 Metern liegt mittlerweile die Weltrekordhöhe des Mittsommernachtfeuers.
Und das Beste daran: Die erstklassigen Zuschauerplätze liegen am Wasser davor. Slinningsbålet ist in Wahrheit ein geniales Bootsfestival.
Auf nach Ålesund!
Ausnahmsweise sind wir also einmal froh über die Flaute. Nicht, weil wir die zwanzig Seemeilen mit Hilfe von Mr. Perkins zurücklegen müssen, sondern weil Schönwetter und Windstille für die Feuersbrunst angesagt sind.
Dann ist es soweit. Wir stürzen uns ins Bootsgetümmel. Anfangs bin ich zwischen den unzähligen Booten nervös, während Jürgen sich einfach nur lustig über mich macht.
Jürgen hat recht, es gibt keinen Grund zur Sorge. Norwegern liegt das Bootsfahren im Blut, vermutlich können sie Boote steuern, bevor sie laufen können. Egal, wie eng es zugeht, egal welche Strömungen uns durch die Gegend schieben, egal, wie wenige Zentimeter zwischen den schaukelnden Booten manchmal liegen. Nirgends kommt es zu Kollisionen, nirgends zu unfreundlichen Rufen. Alle chilled, alle freuen sich, alle sind gut drauf. Und alle haben ihre Boote im Griff.

Als sich dann noch zwei ausgewachsene Kreuzfahrtschiffe zwischen die Boote schieben und uns jede Fluchtmöglichkeit nehmen, kann ich die unfallfreie Enge kaum noch glauben.
Mittlerweile sind die jugendlichen Bauherren den Feuerholzturm hochgeklettert und haben an der Spitze ihr Werk beendet, indem sie die Flagge abmontiert und Feuer gelegt haben.
Zügig klettern die Burschen nach unten, während sich das Feuer auf der Spitze nur langsam ausbreitet. Ich weiß nicht, was mehr Spaß macht, das langsam gewaltig werdende Feuer oder die vielen Partycrews auf den Booten zu beobachten.
Alle warten auf den besonderen Augenblick. Auf den Moment, wenn der brennende Turm umfällt. Heuer scheint die Seenotrettung etwas nachzuhelfen. Sie spritzen mit ihren Löschpumpen Seewasser nördlich des Feuerturms. Mit dem Ergebnis, dass der Turm an seiner Nordflanke etwas raucht, während er an seiner Südflanke lichterloh brennt.

Plötzlich schreit die Menge auf. In meiner Aufregung vergesse ich völlig, auf den Aufnahmeknopf der Kamera zu drücken, während der Feuerturm mit Getöse fällt. Macht nichts, der Moment ist dennoch toll.
Wo wir schon einmal in Ålesund sind, können wir doch gleich auch noch das nächste UNESCO-Weltnaturerbe mitnehmen:
Den Geirangerfjord
Ein Fjord, der vor allem durch die „syv søstrene“ – die „sieben Schwestern“ – beeindruckt.
Zugegeben, berühmte Wasserfälle in Norwegen locken mich nicht unbedingt aus der Reserve. Nicht, weil ich schöne Wasserfälle nicht schätze, viel mehr, weil hier an jeder Ecke Wasser die Berge herunterschießt. Es bedarf ganz einfach keiner beworbenen Touristenattraktion. Überall im Land lassen sich völlig unbekannte Wasserfälle in aller Ruhe bestaunen. Und die Entdeckung dieser Unbekannten kann durchaus reizvoller sein, als den Stars der Werbebroschüren nachzulaufen.

Aber UNESCO-ausgezeichnete Plätze haben bisher doch noch nie enttäuscht. Und so auch der Geirangerfjord und seine spektakulären Wasserfälle.
Vor frischem Wind biegen wir immer tiefer in die Fjordwelt. Je weiter wir vordringen, desto trüber wird das Wetter. Zu beiden Seiten ragen dunkel und bedrohlich die Berghänge aus dem Wasser. Dunkelgrüne Kiefern halten sich an den Felsen fest.
Die letzte Fjordbiegung, der Wind bricht zusammen, nasse Wolken bedecken die Gipfel, Wasserfälle schießen über die Felsen.
Dann eine gewaltige Felswand voraus.
Von ihr schießen die sieben Schwestern. Kein Sonnenstrahl könnte die Szene verbessern. Das trübe Wetter unterstreicht den Eindruck von roher Kraft, von Naturgewalt. Wir tuckern mit offenen Mündern näher heran, lassen uns vor der Felswand treiben, stehen im Cockpit und staunen. Keine Frage, die „syv søstrene“ haben sich ihren Weltruf durchaus verdient.

Vorm Dorf Geiranger liegt ein großer Kreuzfahrer, am Ufer sind unzählige Camper zu sichten. Wir wollen uns heute nicht mehr in den Trubel stürzen und verbringen eine Nacht vor Anker. Und noch einmal gibt es ein großes Lagerfeuer. Am Ufer neben uns feiern einige Einheimische den Sommerbeginn.
Tags darauf brennt die Sonne vom Himmel. Zeit, an den Steg zu gehen. Zeit, um die Trollstiege von Geiranger mit zwei Takten und vier Takten zu erklimmen.

Die Passstraßen von Norwegen sind nicht umsonst „Szene-Straßen“. Sie zu befahren, stürzt mich immer wieder in einen Interessenkonflikt: Soll ich einfach nur die Kurven und Kehren mit dem Motorrad genießen, oder doch lieber an jeder Ecke stehenbleiben und die Aussicht bestaunen?
Abends am Steg sind wir nicht mehr das einzige Segelboot. Die große und gepflegte GUBBY ist eingelaufen und damit herrscht Leben am Steg. Wir lernen Laura, ihre Familie und ihre junge Segeltruppe kennen. Laura Dekker betreibt mit ihrer beeindruckenden Segelyacht ein Jugendsegelprojekt, die Truppe ist vor wenigen Tagen aus den Færøyer Inseln eingelaufen. An Bord auch ein bekanntes Gesicht, die Tochter von Seglern, denen wir vor vielen Jahren über den Weg gelaufen sind.
Zurück an die Küste geht’s unter Motor. Wir haben keine Zeit, auf passende Winde zu warten: Der Anleger von Geiranger bietet keinen Schutz.
Der Wetterbericht meldet Sturm.
Mit Anker und Landleinen verholen wir uns in eine gut geschützte Bucht östlich Ålesund und verbringen die kommenden Tage an Bord. Im Windschutz der Bäume erleben wir zwar nicht die gemeldeten 50 Knoten Wind, aber hin und wieder lässt uns eine steife Böe wissen, dass es draußen rundgeht.
Tage später holen wir unsere Leinen ein, hieven den Anker auf Deck und lassen vorerst die steilen Berge hinter uns. Vor uns liegen die flachen Inseln und Schären vor Kristiansund und der Trondheimsleia.