„Kannst du mich bitte kurz daran erinnern, was genau wir hier machen?“ Es herrscht Kälteeinbruch in Island. Seit Tagen hängt ein trüber, grauer Himmel über uns. Ein schneidig kalter Wind hält uns in Raufarhöfn gefangen, dem nördlichsten Dorf Islands. Die Regenböen vertreiben jede Lust zum Landgang und lassen La Belle Epoque verärgert an ihren Trossen zerren.
Mittlerweile machen wir den Dieselofen auch während der Nacht nicht mehr aus. Es macht einfach keinen Spaß, morgens bei 5 Grad Celsius zu frühstücken.
Die Mittsommernacht mit dem längsten Tag im Jahr geht spurlos an uns vorüber. Vom Sommerbeginn ganz zu schweigen.
Irgendwann erfahren wir, dass wir heuer Islands „kältesten Juni seit 30 Jahren“ erleben dürfen.
Klingt nicht nur kalt, ist es auch! Immerhin befinden wir uns an der Nordküste einer arktischen Insel. Trotz ihrer Lage etwas unterhalb des nördlichen Polarkreises zählt Island ganz offiziell zur Arktis: Denn Island liegt zum großen Teil nördlich der „10°C Juli-Isotherme“. Jener Linie also, ab der die durchschnittliche Temperatur im Juli nicht mehr über 10°C reicht.
Zum Glück allerdings haben die Isländer Abhilfe gegen zuviel verdrießliche Kälte: Unser Highlight in Raufarhöfn bleibt der öffentliche Pool mit Hot-Tube und Sauna.Es ist sinnlos, über das Wetter zu jammern oder vom Sommer zu träumen.
Und so verfolgen wir fleißig die Wettervorhersagen und planen möglichst schnell aus dieser windigen Ecke zu fliehen.
Doch „schnell“ geht für uns erst einmal gar nichts und mein persönlicher Reisetiefpunkt sollte noch bald genug kommen:
Der böige Westwind schwächt etwas ab und dreht in Richtung Nord-Nordwest. Nicht optimal für eine Weiterfahrt, aber doch machbar. Die ersten Seemeilen bis zum Kap werden wir unter Motor laufen müssen. Optimistisch lösen wir unsere Trossen, auch wenn wir wissen, dass draußen noch ordentlich See vom letzten Starkwind steht. Nicht unsere beste Entscheidung!
Kaum den Bug in See gedreht, gehen die Wellen hoch. Wütend schütteln sie uns durch, werfen La Belle Epoque von einer Seite zur anderen und kämpfen gegen unser Vorankommen.
Dann setzt starker Gegenstrom ein.
Seit unserem letzten Werft-Aufenthalt können wir nicht mehr optimal unter Motor laufen, da unsere neu überarbeitete Schiffschraube nicht mehr passt. Ein Fehler, den wir bereits beim Auslaufen im Frühling erkannt haben, da uns bei normaler Marschfahrt bereits 1 bis 2 Knoten Fahrt fehlten.
Nach zwei Jahren an Land waren wir allerdings nicht bereit, das Boot erneut aus dem Wasser zu nehmen und dabei zu riskieren, die heurige Segelsaison zu verlieren. Unsere Schiffschraube muss deshalb bis zum kommenden Winter warten!
Ein riskanter Aufschub: Mit einer nicht optimal laufenden Yacht in extreme Reviere zu reisen heißt auch, den Elementen viel stärker ausgeliefert zu sein. Und mit unserer kavitierenden Schiffsschraube lacht uns der Nordatlantik regelrecht aus!
1,5 Knoten Fahrt über Grund, La Belle Epoque stampft in 2 Meter tiefe Löcher. Das Großsegel knallt, das Vorsegel flattert sinnlos im Gegenwind und will sofort wieder geborgen werden. Jürgen verzieht sich mit beginnender Seekrankheit in die Koje. Ich kurble wie wild am Steuer, versuche La Belle auf Kurs zu halten, auch wenn Wind und Strom nur Umwege erlauben.
Bei Schräglage am Steuersitz verkeilt, mit kondensierendem Atem vor den Augen und vor Kälte gefühllose Füßen, fluche ich über dieses unwirtliche Seegebiet. Aber in Wahrheit bin ich ganz froh, dass ich gerade jetzt alleine im Steuerhaus sitze. Würde jetzt Jürgen bei mir sein und mich fragen, was ich eigentlich will, würde ich vermutlich kommentarlos das Boot auf Südostkurs drehen! Und das wäre doch erst schade!
Mein persönlicher Reisetiefpunkt geht schnell vorbei. Und da ich ja schon am Tiefpunkt war, können ab jetzt nur noch Highlights folgen, darüber bin ich mir sicher!
Recht gehabt. Kaum um die Halbinsel Melrakkasletta, verschwindet der Gegenstrom und hinterlässt eine angenehme See, der Wind kommt von Halb und La Belle Epoque fliegt gelassen unter ihren Segeln dahin. Ein Zwergwal lässt sich bestaunen, nachdem ich meine schlechte Laune unter der warmen Bettdecke bei meiner Freiwache vergessen durfte.
In den frühen Morgenstunden biegen wir in die Hafenbucht von Husavik, freuen uns über den hübschen Hafen und machen an der Pier fest.
Wir haben unseren vorerst letzten Hafen in Island erreicht. Es macht für uns nicht viel Sinn, die Küste weiter in den Westen zu ziehen. Husavik bietet für uns einen guten Absprunghafen für die Weiterfahrt nach Scoresby Sund in Ostgrönland. Außerdem heißt uns der Hafenmeister herzlich willkommen und kommt uns preislich entgegen.
Bald schon fühlen wir uns fast zuhause in Husavik.
Fast täglich kommen neue Segelboote in den Hafen. Wir freuen uns besonders, als Nick aus Irland mit seiner Teddy einläuft. Vor zehn Jahren haben wir ihn zum ersten Mal getroffen – an der Südküste von Island. Die Welt der Nordmeersegler ist eben klein!
Husavik lässt uns alle Mühen der Anreise vergessen. Wir nützen alle sonnigen Tage, um die Lavafelder und Vulkane weiter im Inland zu besuchen. Finden anspruchsvolle Schotterwege und Offroad-Touren.
Die kalten Regentage entspannen wir im lokalen Hot Tube, arbeiten zuhause unsere Fotos durch, oder schreiben und arbeiten an Bord.
Immer wieder werden wir von Einheimischen hier herzlich willkommen geheißen: Menschen bleiben bei uns am Steg stehen, um mit uns zu tratschen. Vor allem die Trialmotorräder ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und wir bekommen immer wieder „Daumen hoch“ gezeigt. Als Jürgen mit einem platten Vorderreifen von einer Tour zurück kommt, bringt uns ein isländischer Motorradfahrer sogar ein Reifenreparatur Set am Steg vorbei!
Unser Blick vom Hafen aus schweift immer wieder bis zur anderen Uferseite des Skjálfandi zu den majestätischen, schneeverhangenen Bergen von Viknafjöll. Wie toll wäre es wohl, auf diese Berge eine Endurostrecke zu finden!
Gesagt, getan. Wir packen Fotoausrüstung, Jause und extra Benzin in unsere Rucksäcke und machen uns auf die Suche nach einer Tour. Finden hinter einem Bauernhof einen Weg, der steil in die Berge führt. Doch sollten wir einfach quer über den Hofplatz fahren, das Koppeltor öffnen und den Weg nehmen? Das wäre doch zu frech! Noch währen wir den Weg von der Straße aus betrachten, kommt die Bäuerin aus dem Haus und Jürgen packt die Gelegenheit beim Schopf.
Wieder dürfen wir begeistert feststellen, wie freundlich die Isländer sind!
Kein Problem, sicher dürfen wir die Grundstücke des Betriebs befahren. Der Bauer kommt zum Gespräch dazu. Beschreibt uns eine Strecke, die hoch in die Berge zu einem verlassenen Hof führt. Eine Traumstrecke, die sie selbst gerne mit ihren ATVs und KTMs fahren. Und im Winter natürlich mit ihren Schneeschlitten. Der Bauer öffnet für uns das Koppeltor und wünscht einen tollen Nachmittag. „Und keine Sorge, falls euch der Benzin knapp wird, ich tank euch gerne auf!“
Eine Bitte hat noch die Bäuerin: „Klopft doch bitte nochmal bei uns an, wenn ihr zurück seid. „Sonst mach ich mir Sorgen, dass euch da oben in den Schneefeldern was passiert ist und schicke womoglich noch die Bergrettung los!“ Wir versprechens!
Wir erleben unsere bisher schönste Bergtour: Steile Schotterstraßen führen uns hoch. Wir überqueren Schneefelder und erreichen Furten durch Bäche und Schmelzwasser. Ich bin froh, heute meine Gummistiefel als Schuhwerk gewählt zu haben! Dreißig Kilometer arbeiten wir uns über die wildesten Wege voran, bis wir hoch über dem Meer auf einer Klippe stehen, einen verlassenen Bauernhof weit unter uns.
Über Schotterstraßen, Reitwege und ein Stück Asphalt gehts zurück nach Husavik. Was für eine gute Entscheidung, hier länger geblieben zu sein! Und was für eine gute Entscheidung, in den hohen Norden gesegelt zu sein!