Mit dem Segelboot durch die Arktis
Einsam und bewegungslos liegt die grüne Segelyacht LA BELLE EPOQUE im endlosen Weiß der grönländischen Bucht. Ein dicker Eispanzer umschließt ihren Rumpf, eine strahlend helle Schneedecke breitet sich über ihr Vordeck, ihr Cockpit. Weit entfernt von jeder menschlichen Ansiedlung, erleben die österreichischen Hochseesegler Claudia und Jürgen einen Winter in Grönland und beschließen, eines der größten Abenteuer in der Geschichte der Seefahrt zu wagen: Durch die Arktis vom Atlantik in den Pazifik zu segeln und die legendäre Nordwest Passage zu durchqueren.
Der Seeweg führt sie durch Packeis, stürmisches Wetter und schwierige Gebiete. Das Klima ist herausfordernd, die Natur schroff und wild. Und doch verspricht die Reise unvergesslich zu werden.
Leseprobe:
Prolog
Ohne es richtig wahr zu nehmen wische ich mir mit dem Handrücken über die brennenden Augen. Meine Arme sind schwer geworden, dumpf nehme ich den Schmerz in meinen Schultern und in der Nackenmuskulatur wahr. Ich bin verspannt und müde. Die Luft im Steuerhaus ist erfüllt mit dem stechenden Geruch von Abgasen. Vor einigen Stunden hat unser Dieselofen Falschluft bekommen und einen Schwall Abgase ins Innere von LA BELLE EPOQUE gepufft. Doch draußen tobt der Schneesturm und an ein Lüften ist jetzt nicht zu denken.
Ich habe ohnehin keine Zeit die Luken zu öffnen. Mit aller Konzentration, zu der ich noch fähig bin, starre ich durch Schnee und Finsternis zu den Trossen am Backbordbug, während meine Hände wie von selbst am Steuer und am Gashebel arbeiten. Der schwache Lichtkegel der Salingsbeleuchtung hilft kaum. Nicht dass ich versuche, von hier weg zu kommen, nein, das würde ohnehin nicht funktionieren. LA BELLE EPOQUEs Motor hat im Rückwärtsgang viel zu wenig Kraftreserven, um uns aus dieser engen Bucht, dieser selbst gewählten Falle, zu manövrieren.
Vor Tagen haben wir hier unser Boot sorgfältig mit Anker und Landleinen verholt, um den anziehenden Wintersturm sicher zu überstehen. Absichtlich haben wir LA BELLE EPOQUE in den schmalen Streifen Wasser zwischen den Felsen manövriert und mit unseren dicken Schwimmtrossen in alle Richtungen verspannt. Haben den schweren Hauptanker eingefahren und am stabilen Poller am Heck angeschlagen. Noch einmal überprüften wir den angebrachten Schamfilschutz und hofften, der Schneesturm würde schadlos an uns vorüber gehen.
Was blieb uns auch für eine Chance? Alle besser geschützten Buchten sind längst zugefroren und somit unerreichbar für uns und unsere Segelyacht. Unsere einzige Chance, der gefrierenden Gischt, welche der Schneesturm vor sich her treiben würde, zu entkommen lag darin, uns so tief wir konnten in diesen Felsspalten zu verstecken. Doch sollte unser Kampf mit dem Wintersturm nicht so einfach werden.
Nun bleibt mir lediglich der Versuch, uns auf der Stelle zu halten, indem ich mit Motordrehzahl und Steuer die drei Trossen, die uns Backbords mit dem felsigen Land verbinden, auf Zug zu halten. Nur indem ich auf die ständigen Windböen reagiere, mit Wind, Ruderdruck und Schraubeneffekt arbeite, kann ich die Trossen auf Spannung halten.
Lediglich eine einzige Trosse verbindet LA BELLE EPOQUE an Steuerbord mit Land. Alle anderen sind bereits gebrochen. Aber viel schlimmer ist, dass unser Heckanker – unsere Sicherheit, nicht an die Felsen gewaschen zu werden – schon vor Stunden geslippt ist.
Mittlerweile sind die kurzen Wellen in der Bucht vielleicht einen Meter hoch, obwohl die Bucht eigentlich recht klein ist und kaum Fetch für die Bildung von Wellen bietet. Wütend klatscht das Eiswasser gegen unser Heck, schickt gefrierende Gischt über die Windsteueranlage bis ins Cockpit und überzieht das Boot mit einer geisterhaft scheinenden Eisschicht, während der steife Wind die Schneeflocken davon bläst, noch bevor sie das Deck erreichen können.
In rhythmischen Abständen piepst unser elektronischer Barograf, um mir seine Warnung zu verkünden. Ich beachte den Barograf nicht. Will diesen Zahlensturz, diese finstere Prophezeiung nicht sehen. Ich darf nicht daran denken, was in unseren Lehrbüchern über Wetterkunde steht: „Ändert sich der Druck mit über drei Hektopascal in drei Stunden, kann mit Starkwind und Sturm gerechnet werden“. Im Moment allerdings fällt hier der Luftdruck mit neun Hektopascal in drei Stunden! So rufe ich mir zur Beruhigung immer wieder ins Bewusstsein, dass es auch heißt: „Je niedriger die Breite, desto niedrigere Druckunterschiede für Starkwind“. Wir sind mit unserem Segelboot schon Jahre in den Hohen Breiten unterwegs, hohe Druckunterschiede sollten mich nicht mehr aus der Ruhe bringen.
Trotzdem schmecke ich den bitteren Geschmack von Angst in mir. Angst, hier draußen, in der winterlichen Einsamkeit von Grönland auf den Felsen zu stranden und einen Überlebenskampf zu beginnen. Wird LA BELLE EPOQUE eine Strandung ohne Leckage überstehen? Und wie lange wird sie standhalten, wenn die See ihren Rumpf wieder und wieder gegen die Felsen werfen wird? LA BELLE EPOQUE ist stark gebaut, vielleicht kann sie auch derartige Belastungen durchhalten. Wahrscheinlich wird das Rigg als Erstes brechen, den harten Schlägen am Rumpf wird es kaum längere Zeit standhalten können. Auch die Schiffsschraube wird zu Bruch gehen, wenn sie erst mal die Felsen berührt. Vielleicht wäscht uns die Tide aber ohnehin so hoch auf die Felsen, dass wir ohne Hilfe von außen nicht mehr freikommen können.
Im Moment läuft die Ebbe und steigert meine Angst weiter. Im Wellental zeigt das Echolot noch etwa einen Meter Wasser unterm Kiel, unglaublich dicht ragen die vom fallendem Wasser freigelegten Felsen wie schwarze Schatten neben LA BELLE EPOQUE auf. „Bitte, bitte, dreh endlich um. Wo um alles in der Welt bleibt die Flut!“
Ich muss an die Worte von Willi de Roos denken. Der belgische Fahrtensegler, der Ende der Siebziger Jahre als erste Segelyacht nach Roald Amundsen die Reise durch die Nordwest Passage auf eigenem Kiel bestritt, schrieb im Buch zu seiner Segelreise:
„…die Angst kehrt zurück, und vorbei sind Ruhe und Gelassenheit. Angst ist ein Anzeichen für Gefahr; wenn wirklich Gefahr droht, spürt man sie, und man sollte dieses Gefühl nicht verdrängen. Wer sich in Gefahr begibt, muss bereit sein, mit der Angst zu leben. Jede Verharmlosung wäre falsch. Viel besser ist es, sich des Risikos bewusst zu sein und die Angst zu akzeptieren. Aber die Fähigkeit, damit zu leben, ist einem offensichtlich nicht von Natur aus gegeben. Im Allgemeinen hat man Angst davor, Angst zu haben und sich und anderen die Angst zu zeigen, die einem die Kehle zuschnürt. Man muss sich immer vor Augen halten, dass man den Elementen immer unterlegen ist und ihnen nur durch den Einsatz der Intelligenz ein Schnippchen schlagen kann. Unsere Intelligenz ist unser sicherster Schutz; nur sie kann einen vor instinktiven oder unüberlegten Handlungen und lebensgefährlicher Panik bewahren.“
Er hat recht, wir sind den Elementen unterlegen, aber welche gut durchdachten Auswege bleiben uns? Meine Gedanken kreisen um die Möglichkeiten, die vor uns liegen, während meine Augen immer noch auf die Trossen fixiert sind und meine Hände wie von selbst arbeiten. Doch sieht es nicht gut für uns aus. Rückwärts kommen wir nicht aus der Bucht und zum Wenden bleibt weder Zeit noch Platz. Selbst wenn der Anker noch halten würde, wäre es wohl kaum zu schaffen, mit seiner Hilfe das Boot zu drehen. Aber der Anker hält ohnehin nicht.
Ich erinnere mich, während der letzten Tage bei Ebbe rechts vor dem Bug einen kleinen, flachen Schotterstrand zwischen einer hohen Felsspalte ausgemacht zu haben. Der Spalt sieht so aus, als hätte vor langer Zeit eine kleine Gletscherzunge hier ihren Weg ins Meer gefunden. Dieser Schotterstrand könnte vielleicht unsere Rettung werden.
Mein Beschluss steht bald fest. Sollten weitere Trossen brechen oder der Wind derart zunehmen, dass unser Rückwärtsgang nicht mehr ausreicht um LA BELLE EPOQUE von den Felsen zu halten, werde ich versuchen, uns mit voller Kraft voraus auf den Schotterstrand zu fahren. Ein halsbrecherischer Plan, muss ich doch versuchen, mit so viel Schwung wie möglich den Strand hoch zu fahren. Schaffe ich es, ganz dicht unter der Felswand zu bleiben, könnte sich LA BELLE EPOQUE vielleicht sogar relativ aufrecht gegen die Felswand lehnen ohne das Rigg dabei zu verlieren. Sicher bin ich mir allerdings nicht, ob dieser Plan auch wirklich funktionieren kann. „Wenn ́s dick kommt, entscheide dich für das kleinere Übel“ geht mir durch den Kopf und so muss ich wohl notfalls diese Strandung versuchen.
Wie gerne würde ich meine Gedanken jetzt mit Jürgen besprechen. Seine Überlegungen hören und seinen Zuspruch zu meinem Katastrophenplan wissen. Denn ich bin es gewöhnt, mich mit ihm zu besprechen und gemeinsam die besten Lösungen zu finden. Zwei Köpfe übersehen weniger Fehler als ein einzelner. Doch Jürgen liegt in der Koje und versucht, ein paar Stunden Ruhe und Wärme zu finden. Wir müssen unsere Kräfte schonen und darauf achten, so fit wie möglich zu bleiben. Immerhin sind wir eine kleine Crew, nur zwei Personen, wie es eben auf den meisten Langfahrtyachten üblich ist. Bis vor wenigen Stunden hat Jürgen noch im Wind und Schneetreiben auf Deck gearbeitet, hat die Trossen kontrolliert gefiert. Vor dem Wachwechsel haben wir gemeinsam in einem wilden Manöver das Heck durch den Wind gedreht, denn der Heckanker hatte zu slippen begonnen. Doch wir dürfen nicht die ganze Nacht gemeinsam Wache halten. Denn der eigentliche Sturm soll erst morgen losbrechen. Ich bezweifle allerdings, dass Jürgen heute Nacht noch Schlaf findet.
Inständig hoffe ich, dass der Wetterbericht wenigstens Morgen recht behält und die gemeldeten Orkanwinde mit zwölf Beaufort wirklich auf Südost drehen. Vor wenigen Tagen haben wir genau hier bereits einen Sturm mit elf Beaufort aus Südost abgewettert und sind dabei mehr als gut geschützt gelegen. Der momentane Nordostwind, der mit acht bis neun Windstärken gegen uns arbeitet, bleibt hoffentlich nur ein kleines, unerwartetes Zwischenspiel.
Langsam weicht die Finsternis der Nacht dem Grau der Morgendämmerung und ein neuer, winterlicher Tag kündigt sich an. Immer noch arbeite ich am Steuer, immer noch steht der Wind aus Nordost und immer noch halten unsere verbleibenden Trossen. Meine Bewegungen sind mechanisch, doch es ist mir nicht entgangen, dass ich mittlerweile weniger Gas benötige um LA BELLE EPOQUE gegen die Windböen zu halten. Langsam wage ich es zu hoffen, diesen Alptraum bald überstanden zu haben, uns zumindest für den Augenblick in Sicherheit zu wiegen.
Verwundert meldet sich auch bald Jürgen aus dem Schiffsinneren. Ob ich denn nicht doch irgendwann eine Ablöse am Steuer haben möchte? Aber er kennt mich, ich kann unzählige Stunden am Steuer verbringen, ja, ich schalte unterwegs meist sogar den Autopilot während meiner Wache aus um von Hand zu steuern. Und lange ist es ja doch nicht her, dass er in der Kälte an Deck gearbeitet hat, weshalb ich ihm heute Nacht wenigstens ein paar ungestörte Stunden Freiwache zukommen lassen wollte. Jürgen reicht mir eine Tasse Kaffee und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Dunkle Ringe unter den grünen Augen bestätigen meine Vermutung, dass er kaum geschlafen hat. Trotzdem strahlt er, der Wind hat merklich abgenommen, wir sind schadlos durch die Nacht gekommen. „Sobald sich das Meer beruhigt hat, werde ich mit dem Beiboot neue Trossen auslegen. Am Nachmittag sollte es ja erneut zum Auftakt blasen, aber dann hoffentlich auch aus Südost!“
Plötzlich bemerke ich neue Probleme. Der Wind ist mittlerweile zu schwach, um, so wie die Nacht durch, gegen unseren Schraubeneffekt zu halten. LA BELLE EPOQUE beginnt, seitlich in Richtung Felsen zu drehen. Noch einmal wird es brenzlig und meine Freiwache endet, bevor sie richtig begonnen hat. Wir müssen weg von hier. Jürgen eilt an Deck, während ich erneut das Steuer übernehme. Es bleibt keine Zeit, die vielen Trossen zu lösen und so hilft nur das Messer. Trotzdem kommen wir nicht rechtzeitig frei. Zum Glück hat sich die Welle mittlerweile beruhigt und so fällt die Grundberührung nur leicht aus. Ein Rumms, schon ist die letzte Trosse durchgeschnitten. Mit voller Kraft schramme ich vom Felsen hinunter ins tiefe Wasser. Das war knapp.
Gemächlich ziehen wir kleine Kreise in der Bucht, Jürgen lädt die neuen Wetterkarten herunter, während ich Sandwiches zum Frühstück bereite. Beim Essen betrachten wir die Wetterberichte und besprechen, wie es weitergehen soll. Der kommende Orkan sollte sich nicht mehr ganz so extrem entwickeln wie vorerst gemeldet: Die neuen Wetterdaten zeigen Sturm mit zehn Beaufort aus Südost. So beschließen wir, LA BELLE EPOQUE erneut an ihren alten Platz zu vertäuen, sobald der
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VIEL SPAß BEIM LESEN!
LESEPROBE
VON
CLAUDIA KIRCHBERGER
EISZEIT MIT DEM SEGELBOOT DURCH DIE ARKTIS
Nordostwind ganz gestorben ist. Doch dieses Mal haben wir gelernt: wir drehen von nun an das Heck Richtung Land, so haben wir das Boot immer bereit für die Flucht!
Die Wettervorhersagen behalten recht: Noch am selben Abend fegt Sturm aus Südost mit Stärke neun bis zehn über uns, doch wir liegen gut geschützt und einigermaßen ruhig. Erneut verschwinden wir beinahe in den Schneemassen. Zwei Tage später lässt der Schneesturm endlich ab und wir können unsere Trossen aus fast drei Meter Schnee ausgraben, unsere Anker lichten und auf den Weg zurück in die schöne Bucht von Færingerhavn segeln.
Kapitel 1
Kathedrale der Stille
Mittlerweile haben wir Mitte Jänner. Die anstrengenden Tage der letzten Stürme sind vorbei und über unserem Seegebiet breitet sich eine ausgedehnte Flaute. Darüber sind wir nicht einmal böse. Wir haben alle Vorsegel ins Boot geräumt, um den letzten Sturm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und so machen wir uns jetzt erst nicht die Mühe, alles wieder an Deck zu räumen.
Die Tage sind noch kurz, wir legen in der Dunkelheit zu einer schönen, ruhigen Fahrt unter Motor ab. Der Vollmond wird bald untergehen und leuchtet als große, orange Kugel über den schneeverhangenen Bergspitzen. Er hat der Nacht etwas von ihrer Undurchdringlichkeit genommen, lässt die kleinen Wellen in seinem Licht glitzern. Kaum draußen, zieht Jürgen das Groß hoch, auch wenn der flaue Wind gegen uns steht.
Konzentriert sitze ich am Steuer. Mein Ausblick beschränkt sich auf das kleine, runde Fenster der laufenden Schleuderscheibe, alle anderen Scheiben sind zugeeist. Hier, südlich von Nuuk, sind die Seekarten einigermaßen gut und es gibt sogar einige Richtfeuer, die mir den Weg durch die Inseln zeigen. Ich klappe den Laptop zu, sein Licht raubt mir die Sicht. Bringe die beiden weißen Lichter voraus übereinander und steuere auf sie zu. Wie Schatten gleiten die Inseln vorüber, verschwinden im Kielwasser. Gut, heute sind nur wenige kleine Eisberge unterwegs, sie lassen sich im Mondlicht gut erspähen.
Der Ebbstrom hat eingesetzt, LA BELLE EPOQUE fliegt mit neun Knoten über Grund dahin, obwohl ich mit Standgas fahre! Langsam färbt sich der Himmel, die roten Leuchtfeuer der nächsten Inselpassage verschwinden in der Morgendämmerung. Es dauert eine weitere Stunde, bis die wärmenden Strahlen der Morgensonne der Kälte endlich etwas Kraft rauben. Hin und wieder schlägt eine kleine Welle ihre Gischt bis hoch auf den Bugspriet. Salzwasser fängt sich im Relingsnetz und gefriert augenblicklich zu glitzernden Eiszapfen. „Wenn wir mal in schwereres Wetter hier im Eismeer kommen, müssen wir das Netz unbedingt abmontieren. Es vereist zu schnell und wird unseren Bug schwer belasten!“ geht es mir durch den Kopf. Gegen Mittag laufen wir in Færingerhavn ein. Ein verwinkelter Ankerplatz, den wir bereits letzten Sommer genauer in Augenschein genommen haben. Hier gibt es eine besonders gut geschützte Bucht. Sie ist so klein, dass wir in alle Richtungen Landleinen spannen könnten. Ihre Einfahrt ist eng und seicht, nur bei Hochwasser könnte ein Kielboot wie LA BELLE EPOQUE in die Bucht gelangen. Ein idealer Platz um den Winter darin zu verbringen und dabei gegen jedes Wetter und Eis gerüstet zu sein. Größere Eisberge würden lange vor der Bucht stranden und in alle Richtungen ausgebrachte Trossen würden das Boot selbst bei tobendem Orkan an seinem Platz halten.
Doch insgeheim bezweifle ich, bis in diese kleine, innere Bucht vordringen zu können. Wahrscheinlich liegt die Bucht längst zugefroren. Macht nichts, wir haben die Wetterkarten gut studiert und wissen, dass wir tagelang Zeit haben, einen guten Platz zu finden.
Schon in der großen äußeren Bucht von Færingerhavn empfängt uns eine Eisdecke. Ich nehme etwas Gas zurück, taste mich erst einmal vor. Im dicken Parka eingehüllt springt Jürgen an den Bug. Langsam manövriere ich durch die noch dünne Eisdecke. Nach und nach muss ich mehr Gas geben, um die Geschwindigkeit im Schiff zu behalten und vorwärts zu kommen. Jürgen zeigt mit der Hand nach vorne. Mein Blick folgt seinem Zeichen und ich entdecke, was er schon vor mir gesehen hat: Vor uns wird die Eisdecke hell weiß. Dort muss das Eis dick sein. Schade. Da werden wir wohl kaum durch kommen, kaum zu unserer geplanten Bucht gelangen.
Es kratzt und schrammt am Rumpf. Unser armer Wasserpass: Der Lack hat ja wohl nicht besonders hohe Chancen! Wir erreichen die weiße Eisfläche. Vorsichtig taste ich mich näher ran, werde gestoppt. Jürgen gibt mir erneut ein Zeichen: das Zeichen für volle Kraft voraus. Beherzt lasse ich den Motor aufheulen. Es kracht und knirscht am Bug. LA BELLE EPOQUE hebt ihren Bug aus dem Wasser. Fährt wenige Dezimeter aufs Eis. Bricht ein. Bleibt stecken. Jürgen zuckt mit den Schultern. Nein, selbst mit Anlauf kommen wir hier nicht weiter. Besser, wir suchen eine andere Bucht.
Wir haben bereits vor Stunden die Seekarten auf weitere Möglichkeiten abgesucht und einige Alternativen gefunden. Keine leichten Alternativen, muss ich zugeben, aber immerhin. Es wird schwierig werden, in nicht kartografierte Bereiche dieses Fjords durchs Eis zu fahren. Ohne Chance, eine Untiefe durch die Eisdecke rechtzeitig zu sehen. Egal, wir sind uns einig und wollen die nächste Bucht am Südufer des Fjords versuchen.
Die ausgewählte Bucht ist OK, aber nicht toll. Wir tauchen bereits jetzt, zur Mittagszeit, in den Schatten der steilen Bergwände. Am Bug stehend schüttelt Jürgen den Kopf. Ich verstehe seine Meinung nicht ganz, geschützt währen wir hier ja trotzdem gut. Er kommt zurück ins Cockpit und macht seinen Bedenken Platz: „Schau dir mal die Hänge um uns an: die sind viel zu steil. Ich will nicht erfahren, welche Fallwinde der nächste Sturm hier bringt. Nichts wie raus hier!“
Recht hat er. Nächster Stop: hinter der kleinen Insel Valdemar Ø. Dort sieht das Land recht niedrig aus. Wieder grüßt uns weit vor der gewählten Ankerbucht eine dünne Eisschicht und wir müssen „blind“ in den nicht vermessenen Fjord vordringen.
Der Platz gefällt uns, er ist sonnig und von nur niedrigen Küsten umgeben. Doch ist die Bucht etwas groß. Bei fünf Meter unterm Kiel lässt Jürgen den Anker ausrauschen. Genug für heute, der Platz ist herrlich schön, wir wollen erst mal eine Nacht darüber schlafen.
Wir sitzen im Steuerhaus und trinken Tee, beobachten die rosa Farbenpracht, in die der Sonnenuntergang unsere Welt aus Eis und Schnee taucht. Eine unglaubliche Ruhe breite sich über uns. Nur das leise Schrammen der Eisplatten am Rumpf ist zu hören. Bald zieht das Nordlicht seine grünen Schleier über uns und leuchtet um die Wette mit den unglaublich vielen Sternen.
Die Nacht ist kalt und eine feine Eisdecke umschließt LA BELLE EPOQUE. Am nächsten Morgen setzen wir einen zweiten Anker, wir werden länger hier bleiben, hoffen dass sich das Eis bald um unser Boot schließt und wir eine Zeit in der Einsamkeit von Grönland verbringen können. Wir sind vorbereitet, mehrere Monate an Bord leben zu können und haben in Nuuk das Boot vollgebunkert. Diesel- und Heiztank sind gefüllt, Wassertanks ebenso. Viele Lebensmittel sind eingekocht und verstaut. Wir haben Munition für unsere Flinte zum Schutz gegen Eisbären und für die Entenjagd gekauft und genügend Benzin für den Generator getankt.
Einige Tage sind wir an Bord gefangen. Das Eis trägt uns noch nicht und ist doch bereits so stark, dass wir keine Fahrt fürs Dingi mit den Paddeln frei stechen können. Doch was macht es schon, hier gefangen zu sein: Die Tage sind so herrlich schön, dass sie dennoch wie im Flug vergehen. Wir genießen es, weit weg vom quirligen Hafen Nuuks zu sein, wo wir die letzten Monate verbracht haben. Mit einer Tasse Kaffee bewaffnet sitzen wir morgens stundenlang beim Funkgerät, ich verbringe viel Zeit an meinen Aufzeichnungen und Jürgen verschwindet fast in seinen Büchern. Wir sitzen am Rechner und studieren Eiskarten, betrachten erneut die Seekarten der Nordwest Passage, lesen und philosophieren über die Welt.
Und plötzlich ist es soweit. Jürgen steht neben LA BELLE EPOQUE und grinst mir entgegen: Das Eis trägt: Zeit für den ersten Landgang! Wir packen Fotorucksack, eine Thermoskanne mit Tee und die Flinte ins Dingi und laufen an Land, das Beiboot im Schlepp! Das Eis zu unseren Füßen ist weich, bewegt sich leicht im Takt der Schritte. Ein eigenartiges Gefühl, über das Meer zu laufen. Hier, wo wir im Sommer noch mit dem Dingi gefahren sind!
Über die Uferböschung wird es etwas heikel: wir haben bis zu vier Meter Gezeitenunterschied und so ist das Eis entlang der Ufer gebrochen. Vorsichtig schieben wir das Dingi über die gebrochene Eisfläche vor uns und tasten uns von einer Eischolle zur nächsten, bis wir schließlich das Ufer trockenen Fußes erreichen. Nur mit Hilfe der Nageleisen an den Stiefeln können wir über das glatte Eis der Ufer gelangen. Wir binden das Dingi um einen Eisblock fest und stapfen über den Schnee den Hügel hoch. Immer wieder sinken wir bis zu den Oberschenkel ein, wie gut wäre es jetzt, breite Schneeschuhe dabei zu haben. Aber das Wetter ist kalt genug, viele Schneeverwehungen sind bereits steif gefroren und tragen unser Gewicht. Zwischendurch ragen Felsbuckeln aus dem Schnee und mit etwas Übung kommen wir ganz gut voran.
Die Sicht ist unbeschreiblich – die arktische Luft lässt uns beinahe ewig weit sehen und Entfernungen sind kaum mehr zu schätzen. Nur an unserer Atemlosigkeit merken wir, wie weit wir uns schon durch den Schnee gearbeitet haben. Was würden wir jetzt für Tourenski geben! Das Land ist so herrlich und wir könnten so weit wir wollen über die Hügel bis zu den Bergen reisen. Doch zu Fuß, ohne Ski oder Schneeschuhe ist der Weg mühsam und kaum zu schaffen. Immer wieder legen wir Pausen ein, lassen unsere Blicke über das Land schweifen, sind überwältigt von der unglaublichen Erhabenheit dieser Winterlandschaft.
Verschwitzt erreichen wir die Anhöhen, kühlen uns in der leichten Brise, die über die Gipfel streicht. Ich halte inne und staune. Staune über dieses „Kalaallit Nunaat“ – wie Grönland von den Inuit genannt wird. Übersetzt heißt es „Land der Menschen“. Doch Grönland ist kein Land der Menschen, Grönland ist eine einzige Naturgewalt! Nordöstlich von uns erheben sich schroffe, schneebedeckte Berge hinter einer gefrorenen Bucht. Südlich der zugefrorenen Bucht treiben gemächlich einzelne Eisstücke im leichten Ebbstrom des Fjords. Im Westen liegen weitläufige, zugefrorene Buchten zwischen felsigen Inseln und Schären, die die Sicht auf das offene Meer verdecken. Eine dieser Buchten zeigt menschliche Spuren: unsere Spuren, denn dort wartet unser Boot im Eis.
Als einsamer Farbpunkt liegt LA BELLE EPOQUE friedlich im Tal, umgeben von der weißen Eisdecke, die ihren Rumpf umschließt. Aus der Ferne betrachte ich unser schwimmendes Zuhause. Den Bug Richtung Küste, das Heck zum Meer liegt sie eingekeilt im Eis und hinterlässt den Eindruck, als wäre sie stecken geblieben. Eine Schneedecke breitet sich über ihr Cockpit und das Vordeck, doch die Aufbauten sind frei geschmolzen und leuchten in hellem Grün. Alles an Deck ist aufgeklart und ordentlich, die Segel angeschlagen und in weinrote Persenninge eingepackt. LA BELLE EPOQUE ist in tadellosen Zustand und könnte jederzeit auslaufen – wäre sie nicht eingeschlossen!
Es ist unglaublich ruhig hier. Über uns streckt sich ein tiefblauer Himmel und nur gelegentlich sind ein paar Eiderenten oder eine einzelne Krähe zu erspähen. Im Schnee entdecken wir Spuren von Füchsen, Hasen und Karibus.
Das Eis in der Bucht ist die letzten Tage enorm gewachsen, die Eiskante reicht schon weit bis knapp zum Eingang der Bucht, verbindet die kleinen Inseln mit dem Land. Dahinter glänzt das offene Wasser im dunklen Blau.
VON
CLAUDIA KIRCHBERGER
EISZEIT – MIT DEM SEGELBOOT DURCH DIE ARKTIS
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