Wo Berge schwimmen

Wir haben Samstag, den 30 Juli 2022. Die Mittagssonne brennt vom Himmel und nimmt der eisigen Luft etwas an Biss. Eine leichte Brise aus West schiebt LA BELLE EPOQUE immer tiefer in den breiten Fønfjrod. Oder, besser gesagt in den Ujuaakajiip Kangertiva, wie der Fjord seit jeher auf Grönländisch heißt. 

Eisberg
Eisberge treiben gemächlich durchs ruhige Fjordwasser hinaus in den Arktischen Ozean

Einzelne Eisberge glitzern im Sonnelicht, treiben im türkisgrünen Gletscherwasser.

Eine Szene, eingerahmt von steilen Berghängen zu beider Uferseiten. Berge, die mit mächtigen Schneefeldern gekrönt sind. Es ist die Eiskappe Grönlands, deren Ränder wir sehen.

Dazwischen liegen wilde Schluchten, die einst von mächtigen Gletscherzungen aus dem Gestein geschliffen wurden. Viele dieser Schluchten sind heute nicht mehr mit schweren Eismassen gefüllt. Zurückgeblieben sind rundgeschliffene Steinwände und ausgedehnte Schotterbänke. Und ein paar schmutzige, kleine Gletscherzungen, die das Sundwasser nicht mehr erreichen. Unachtsam lassen sie ihre mitgebrachten Felsen liegen. Ihr Schmelzwasser formt Rinnsale, die sich schlängelnd einen Weg bis in den kalten Sund suchen.

von Gletschern geformte Schluchten
Tiefe, von Gletschern geformte Schluchten unterbrechen die Berge Grönlands

Zurückgeblieben ist freigelegter Fels, der auch ohne Gletschereis im ewigen Kampf mit Wasser langsam an Boden verliert. Jahr für Jahr dringt das Wasser in seine Ritzen und Wunden. Winter für Winter macht es sich als Eis breit und sprengt die Felsen. Frühling um Frühling bluten die Berge ihre verlorenen Felsschichten in Form von Steinschlag, Felsabbrüche und ins Tal rollenden Kiesel.

Doch wo Wasser arbeitet, gibt es nicht nur Zerstörung. Dort gibt es auch einen Neuanfang und Leben.

Entlang der Rinnsale halten sich die ersten, allerkleinsten Pflanzen an den Felsspalten fest. Füllen die Ritzen langsam mit wenigen Gramm Humus. Bis genug Erde vorhanden ist, um sogar Bäume einen Ort des Wachstums zu geben.

Freilich, diese Bäume sind weder mächtig, noch wachsen sie schnell. Vom Sund aus sind sie nicht einmal zu sehen.

Denn die Bäume Grönlands können nicht einfach in die Höhe wachsen, können nicht ihre Kronen ausbreiten und ihre Blätter im Wind rauschen lassen. Der kommende Winter würde sie unweigerlich zerstören.

Deshalb halten sie sich dicht am Boden fest, wachsen nur wenige Zentimeter hoch und breiten ihre Äste über die Steine und Felsen wie Bodendecker. Sie verstecken sich vor dem Winter unter der schützenden Schneedecke und zeigen ihre kleinen Blätter im Sommer nur jenen Besuchern, die ihren Blick nach unten richten. Die realisieren, dass sie auf einem Jahrhunderte alten Wald spazieren.

Bäume Grönlands
Die Bäume Grönlands kriechen am Boden und sind umgeben mit den Blumen des Sommers.

Mit den Bäumen kommen auch die Blumen. In jeder kleinen Senke, entlang der eisigen Schmelzwasserläufe, an den Quellen und zwischen den herumliegenden Felsen heben sie ihre hübschen Blüten auf kurzen Stielen. Leuchten in fröhlichen Farben zwischen niedrigen Beerensträuchern, Moosen und Flechten. Zeigen ihre Winzigkeit so stolz, dass jeder genug Respekt vor ihnen hat, um nicht auf ihre Köpfe zu trampeln.

Und so führen selbst die Pfade der beeindruckendsten Bewohner dieser Felshänge zwischen den blühenden Teppichen über sumpfige Permafrostböden und nacktes Gestein. 

Wie ein Netz aus Wanderwegen führen diese Pfade entlang der Küste durch die Schluchten hoch bis zu den Eiskappen über dem Gebirge Grönlands. Es sind die Routen der Moschusochsen. Und ihre Spuren finden wir hier überall!

Es dauert nicht lange, sichten wir vom Boot aus unsere ersten Moschusochsen am Ufer.

Um sie näher betrachten zu können, drehen wir den Bug in die große Bucht, an deren Ufer eine kleine Herde grast. Jürgen holt die Segel ein. Vom Bug aus beobachtet er das Wasser voraus. Stellt sicher, dass ich auf keine Untiefe in dieser unvermessenen Bucht dampfe.

Langsam und so leise als möglich laufen wir unter Motor näher. Erkennen eine Kuh mit ihrem Kalb am Ufer. Ein stattlicher Bulle weidet in etwas Abstand am satten Grün bei einer Frischwasserquelle.

Moschusochsen
Ein Moschusochse mit Kalb weidet am Ufer.

Nichts an dem Äußeren dieser kleinen Herdentiere lässt uns an Ziegen denken, mit nichts erinnern sie uns an ihre nächsten Verwandten: den Gämsen. Wie Bisons – mit breiten Nasen und dunkelbraunen Fell – stehen sie da. Nur dass sie kleiner, ihre Pelze dichter und ihre Haare länger sind. Und ihre Hörner sind von der massiven Stirnplatte aus nach unten gebogen, stehen links und rechts der Augen ab.

Wir bleiben auf Abstand, wollen die Tiere nicht beim Fressen stören. Dafür haben sie nicht allzu lange Zeit, die Sommersaison ist kurz. Die Tiere müssen sich genug Fettvorrat anfressen, um nicht im kommenden arktischen Winter zu verhungern. Um zu überleben, wenn Schneemassen ihre Futterpflanzen verdecken.

Moschusochse
Ein stattlicher Bulle beobachtet uns.

Beeindruckend bleibt, dass sie in diesem kargen Land überhaupt genug Futter finden. Selbst im Sommer wäre es uns Menschen hier unmöglich, von der Pflanzenwelt zu leben. Nick von Bord der TEDDY hat mir bereits einige essbare Pflanzen gezeigt – das „scurvy grass“, wie das Vitamin C reiche Löffelkraut genannt wird, oder die Salzmiere. Ein paar Pilze und Beeren kenne ich selber von unserem letzten langen Grönlandaufenthalt. Aber leben könnten wir davon ganz sicherlich nicht.

Desto tiefer wir in den Fjord vordringen, desto dichter wird das Eis.

Große Eisberge treiben gemächlich im türkisen Fjordwasser. Sie stammen von den sehr aktivem Vestford Gletscher, dem Døde Bræ und dem Rolligen Bræ. 

Segeln in Grönland
Wir suchen uns offenes Wasser zwischen dem vielen Gletschereis im Sund.

Es ist so viel Eis, dass wir keinen Kurs mehr folgen können. In Schlangenlinie und mit zahlreichen Umwegen folgen wir den Fahrrinnen zwischen den Eisbergen und Grawlern.

Mittlerweile sind wir nicht mehr alleine. Wir haben TEDDY entdekct, wie sie unter gefüllten Segeln ihren Weg zwischen den Eisbergen sucht. Heute Abend werden wir uns erneute eine Ankerbucht teilen.

Segelyacht im Eis
Segelyacht TEDDY im Eis

Aber nicht nur wir Segler sind bis in das innerste Fjordwasser von Scoresby Sund vorgedrungen. Vor Røde Ø – der Roten Insel – herrscht Trubel: Ein kleines Kreuzfahrtschiff liegt still zwischen den Eisbergen. Seine Expeditionsschlauchboote voller Gäste in roten Jacken schwirren herum, Horden an Kajakpaddler treiben zwischen den Eisblatten. Wir sichten Taucherexpeditionen am Ufer und Wanderer auf der Felsinsel. Über uns ertönt Rotorengeräusch. Der bordeigene Hubschrauber des Kreuzfahrtschiffes kommt in Sicht, landet am Schiff und hebt bald mit den nächsten Touristen zum Rundflug ab.

Das ist fast zuviel Trubel für uns und gemeinsam mit Teddy ziehen wir weiter in den Norden. Der Wind hat mit dem Fjordlauf mitgedreht. Wir folgen dem Rødefjord zwischen dem grönländischen Festland und der großen Insel Ilimananngip Nunaa bis zum Harefjord. 

Røde Ø, Rødejord, Rødepynt – Roteinsel, Rotfjord, Rotpunkt.

Was auf der Karte noch wie eine phantasielose Namenswiederholung gewirkt hat, macht plötzlich Sinn. Wir sind umgeben von roten Gebirgszügen.

Røde Ø ist eine blutrote Felsinsel und Rødepynt leuchtet im warmen Rotton hinter den treibenden Eisstücken.

Roede Oe
Røde Ø leuchtet im satten Rot zwischen den Eisbergen

Die Felsen leuchten in der Farbe der Vergangenheit. Es ist die Geschichte eines einstigen Gebirges. Denn der rote Fels ist Sandstein. Abgetragener und zu Fels gepresster Sand, übriggeblieben vom paläozoischem „Kaledonischen Gebirge“. Ein Gebirge, das vor vielleicht 400 Millionen Jahren entstand und irgendwann auch fast wieder verschwand. Abgetragen zum Rumpfgebirge, einem letzten, alten Gebirgsrest, auf dem heute die britischen Inseln, manche skandinavischen Gebirgszüge und ein Teil von Ostgrönland und Spitzbergen steht. In gewisser Weise ist dieses einstige Gebirge sogar der Grundstein der nordamerikanischen Appalachen. 

Roter Sandstein
Roter Sandstein in Scoresby Sund

Der leichte Wind dreht mit uns, während wir langsam aus dem dichtem Eisfeld segeln oder treiben. Immer wieder lassen wir LA BELLE EPOQUE treiben, wenn der Wind einschläft. Es spielt keine Rolle, wie lange unsere Fahrt dauert, denn es wird nicht Dunkel. Wir werden den nächsten Ankerplatz mit Sicherheit bei Licht erreichen.

Irgendwann starten wir trotzdem den Motor, die Brise ist endgültig eingeschlafen.

Wir erreichen den Ankerplatz von Harefjord und auch hier sind wir nicht alleine. Vorsichtig laufen wir an der Charteryacht OPAL aus Husavik in Island vorbei. Ankern zwischen ihr und dem Ufer und beobachten bei einer Tasse Tee im Cockpit, wie kurz nach uns auch TEDDY einläuft.

Morgen, wenn wir aufwachen, wird OPAL bereits weitergezogen sein. Wir werden den Tag damit verbringen, gemeinsam mit Nick und seiner Crew das Umland und den traumhaft schönen Gletscher von Harefjord zu erkunden!

Ankern in Grönland
Am Ankerplatz von Harefjord sind wir morgends nur noch zu zweit.

 

 

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