Lebenswert

Vierzig Jahre sind vergangen, seit ich eine zweite Chance bekommen habe. Eine Chance, mein Leben mit beiden Händen zu packen und lebenswert zu machen. So lange ist es her, dass ich aus dem Koma aufgewacht bin.

Vierzig Jahre ist es her, seit ich als Kleinkind rücklings vom Traktor gefallen bin und vom Anhänger überrollt wurde. Seit mir Ärzte keine Chance geben wollten und andere Ärzte alles daran setzten, mein Leben zu retten.

Seit mein Opa an einem gebrochenen Herzen und der unmöglichen Schuld, seine kleine Enkelin aus Unachtsamkeit vermutlich umgebracht zu haben, fast gestorben wäre. Und seit die Welt für meine Eltern einmal stehengeblieben ist. 

Seit mein Körper zerquetscht und zerbrochen in der Intensivstation des Krankenhauses gelegen ist und mir in Notoperationen ein zu Brei gefahrener Lungenlappen aus der Brust geschnitten wurde. Seit eine Maschine vorübergehend das Atmen für mich übernahm, während ich nichts anderes zu tun hatte, als mein Blut zu beobachten, wie es aus Leitungen von mir floss, unterm Bett verschwand und im Kreislauf über andere Leitungen zurück in mich gelangte.

Vierzig Jahre sind vergangen, seit ich eine Ahnung davon bekommen habe, was für ein Geschenk es ist, Leben zu dürfen.

Eigentlich gehöre ich nicht zu den Menschen, die ihren Lebensweg, ihre Entscheidungen und ihre Träume mit Geschichten aus der Kindheit erklären. 

Ehrlich gesagt glaube ich nicht daran, dass Vorlieben aus der Kindheit sehr viel damit zu tun haben, wie wir unseren späteren Lebensweg gestalten. In Wahrheit langweilen mich Erzählungen, die mit „Schon als Kind wollte ich Kapitän werden,…“ beginnen.

Vielleicht glaube ich auch nur deshalb nicht an solche Geschichten, weil ich mich an keine großen Abenteuerträume in meiner Kindheit erinnern kann. Weil ich nach meinem Unfall eher Angst vor Fahrzeugen hatte und am liebsten in meiner kleinen, sicheren Welt mit Puppen gespielt habe. Weil mich mein Umfeld darin bestärkt hatte, dass ich mit meinem havarierten Körper tollpatschig und unsportlich sein musste. Weil ich schon der fehlenden Lungenkapazität wegen zum Nichtschwimmer erklärt wurde und Kurzatmigkeit und Wassersport einfach nicht zusammenpassen kann. Schon der Gedanke an Luftanhalten und Abtauchen brachte meine Nackenhaare zum Stehen.

 Obwohl irgendwann mein Körper vollständig ausheilte und keinerlei Schäden zurückblieben.

Und dennoch habe ich meinen bisherigen Lebensweg nach einer Annahme gestaltet, die ich seit meiner Kindheit in mir trage.

Allerdings war in diese kindliche Vorstellung weder mit dem abenteuerlichen und abwechslungsreichen Leben verbunden, das ich seither gelebt habe. Meine Erfahrungen und Ideen aus der Kindheit haben mir keine Vorstellung gegeben, was ich einmal „werden möchte“.

Andersrum. Ich musste nichts werden, weil ich seit meinem Umfall wusste, das ich etwas war: Ich war am Leben. Und das ist weder selbstverständlich noch unendlich. 

Es ist das Schönste, was mir passieren konnte. 

Aber es gab da noch eine Ahnung, mit der ich aus dem Koma aufgewacht war. Ein Gefühl, dass ich als Kind nicht benennen konnte. Das Gefühl, keine Angst vor dem Sterben, dem Totsein zu haben. Ich hatte verstanden, dass das Leben ein Ende haben wird. Mich davor zu fürchten, wäre Zeitverschwendung.

Heute kann ich diese Ahnung, diese Prägung aus meiner Kindheit benennen: Es ist das Wissen, kein sicheres Leben zu haben. 

Sicher zu Leben ist ein Oxymoron, eine Unmöglichkeit.

Seit ich denken kann, bin ich zufrieden, ein endliches Leben zu haben. Vergänglichkeit verhindert, dass ich falschen Sicherheiten einen zu hohen Wert gebe.

Denn am Schuss zählt nur, ob ich mein Leben lebenswert gelebt habe.

Und lebenswert heißt für mich persönlich, mein Leben frei und von Neugierde getrieben zu gestallten.

So bin ich neugierig, wohin mich dieses lebenswerte Leben noch führen wird.

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7 Kommentare

  1. Toll geschrieben liebe Claudia. So lebensnah auf den Punkt gebracht.

  2. So super erzählt jeder muß sein Leben meistern was war und noch geschieht Lebe deinen Traum den viele verstehen nicht einmal mit dem normalen Leben umzugehen geschweige noch mit Schicksal Schlägen ich wünsche dir so auch Jürgen noch viele schöne Abenteuer und viel Glück wo immer du (ihr ) seid Liebe Grüße Hilde To.

  3. Danke für die ehrliche Geschichte. Ich freue mich dauernd mit euch, euren Geschichten, eure positive Lebenseinstellung und und eure Offenheit. Schade, dass unsere Kurse sich länger nicht gekreuzt mehr haben. lg aus Schottland und Kurs Süd. Sy Slisand Lady. Andreas

  4. Christine Peters

    Liebe Claudia, was für ein Schicksal! So viele Menschen haben um dich gekämpft, an dich geglaubt, und du wohl an allererster Stelle!!! Das alles hat dich also so stark gemacht und dir diese sympathische Persönlichkeit und ein sehr gesundes Selbstvertrauen gebracht. So haben wir dich/euch jedenfalls kennen gelernt und das kann man in all euren Veröffentlichungen spüren.
    Ganz besonderer Dank für das Teilen deines persönlichen, berührenden Schicksals. Ganz liebe Grüße von Peter und Christine aus Stralsund/SY Ippocampo

    • Hallo ihr beiden, es war schön, euch im Frühling bei eurer spontanen Einladung in Stralsund kennenzulernen. Wir hoffen, ihr hattet einen schönen Start zu eurer eigenen Weltreise und wünschen euch all die schönen Erlebnisse auf See und an den Küsten!

  5. Klaus Schröder

    Hallo Claudia und Jürgen,
    habe mich durch eure Berichte über die Rammin Werft in Barth anregen lassen dort mein Boot den nächsten Winter liegen zu lassen.
    Bin seit gestern hier und erst einmal sehr angetan von der Atmosphäre und den Menschen hier.
    DACA-MOLU ist ein 11 m Stahlsegler, selbst gebaut und meist einhand gesegelt.Dieses Jahr ging es von Makkum über die englische Südküste, Irland, Schottland, den Caledonian Canal, Norwegen, Dänemark nach Barth.
    Ehre Bücher und Berichte haben mich die letzten Jahre sehr inspiriert und motiviert.
    Wünsche euch das Allerbeste und bleibt so wunderbar bodenständig!

    Viele Grüße
    Klaus Schröder

    • Hallo Klaus, wir sind letzte Woche losgesegelt, werden aber spätestens im Oktober noch einmal zur Werft Rammin zurückkommen, da wir kommenden Winter auf einem anderen Boot segeln und deshalb LA BELLE nochmal an Land stellen werden. Wir werden aber nach deiner DACA-MOLU Ausschau halten. Vielleicht trifft man sich ja. Schöne Grüße Claudia und Jürgen

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