Es ist drei Uhr morgens. „Offiziell“ das Ende meiner Wache. Ich könnte also nach unten gehen und Jürgen wecken.
Doch das strickte Arbeiten nach Plan liegt uns beiden nicht. Wichtig ist jetzt nur, dass wir beide so hart als möglich segeln, ohne dabei über unsere Grenzen zu gehen. Dass wir uns selbst und gegenseitig genügend Ruhe erlauben, um funktionieren zu können.
Es ist unnütz, in die Koje zu kriechen, bevor wir überhaupt müde sind. Viel besser ist es, diese Zeit noch dem Partner zu schenke und die eigene Wache etwas auszuweiten.
Gleichzeitig ist es aber gefährlich, zu übertreiben. Den eigenen Schlaf zu sehr zu unterdrücken, kann aus Erschöpfung Lethargie machen. Auch ist es kritisch, zu erschöpft zu sein, dass die nächste Freiwache nicht mehr zur Erholung ausreicht.
Und deshalb haben wir über die Jahre eine „schwimmende“ Wacheinteilung entwickelt.
„Offiziell“ – sprich: die Bordregel – haben wir uns die Nacht in zwei Teile aufgeteilt: in zweimal sechs Stunden.
Meine Wache beginnt um 21:00 Uhr und dauert demnach mindestens bis 03:00 Uhr. Ich habe mir immer schon gerne die Nacht um die Ohren geworfen. Drei Uhr morgens kommt für mich schneller als erwartet. Doch vor Müdigkeit schwere Knochen fühle ich meist erst, wenn die Morgendämmerung ihr erstes graues Licht zeigt.
Die extra Schlafstunden dankt mir Jürgen auf seine Art: Er lässt mich vormittags ausschlafen.
So schlafen wir auf Hochsee beide mindestens sechs, in der Regel aber eher sieben bis acht, Stunden. Gegen Mittag legt sich manchmal Jürgen noch ein bis zwei Stunden in die Koje. Abends, vor meinem Wachantritt wärme ich mich nochmal unter der Bettdecke auf.
Heute muss ich natürlich nicht erst auf die Morgendämmerung warten.
Es ist ohnehin kaum Nacht geworden und um drei Uhr morgens ist es längst hell.
Dennoch warte ich bereits ungeduldig, Jürgen endlich aufwecken zu können. Nicht, weil ich todmüde wäre. Nur, ich habe die neuen Wetterdaten per Funk erhalten und bin neugierig, welches Gesicht er machen wird. Ich bin neugierig auf seine Reaktion, wenn er erfährt, dass wir in Island überhaupt nicht stoppen müssen.
Mittlerweile habe ich auch das Besansegel wieder gesetzt. Ich halte nicht länger Kurs nach Islands Ostküste. Ein paar Grad Kursänderung machen den Unterschied. Segelten wir vorher noch vor dem Wind, zieht nun auch der Besan ganz gut.
Ganz traue ich dem guten Segelwind nicht.
Es ist ratsam, so schnell als möglich durchzuziehen.
Keinen Meter will ich verschenken. Auch so wird die Fahrt bis zu den Færøer Inseln rau genug.
Wir segeln die Rückseite eines Sturmtiefs, das in den Nordosten abgezogen ist und mittlerweile zwischen Jan Mayen und Spitzbergen steht. Ein Hochdruckgebiet über Schottland bringt Halbwind bis zu den Færøer, wenn auch mit Spitzen bis 30 Knoten.
Umso besser, dann geht´s wenigstens schnell!
Und schnell müssen wir sein, wollen wir diese Strecke schaffen. Denn das nächste Sturmtief sollte in ein paar Tagen über Island ziehen und die Karten neu mischen.
Beim Wachwechsel um halb fünf Uhr bestätigt Jürgen meine Routenpläne. Wir können zumindest bis zu den Færøer Inseln durchsegeln.
Besser noch, wir versuchen, bis zu den Shetlandinseln zu gelangen.
Wir segeln so hart wir können. Ab sofort steuert auch nicht mehr die Aries oder der Autopilot. Denn wir wollen La Belle Epoque treiben, ordentlich treiben. Und das geht nur unter Handsteuerung. Für die Steuerhilfe müssten wir längst reffen.
Das ist anstrengend. In jeder Böe lehnt sich LA BELLE EPOQUE gegen uns auf. Sie will den Wind aus ihren Segeln schütteln und versucht, auszubrechen.
Auch die steiler werdende See verlangt einiges von uns ab. Das Boot schlägt hart in den Wellen umher. Über Stunden schief im Steuersitz zu verweilen und konstant am Ruder zu drehen bringt nicht nur kalte Zehen und Finger. Bald schmerzen die Schultern. Die Muskel im ganzen Oberkörper arbeiten und der Rücken schreit.
Irgendwann im Laufe meines Lebens muss ich wohl hart auf den Kopf gefallen sein.
Wieso reizen mich diese Anstrengungen? Erneut stelle ich fest: Ich befinde mich gerade jetzt da, wo ich mich am wohlsten fühle. Ich bin glücklich, hier draußen zu sein. Alleine mit Jürgen, an Bord von LA BELLE EPOQUE. Ausgesetzt einem wütenden, eiskalten und grauem Nordatlantik. Alleine in einer Natur, die ihre Großartigkeit in allen Facetten zeigt, solange man nur hinsieht.
Ich kann nicht anders: Für mich ist das gerade der schönste Segelschlag des ganzen Sommers!
Die anrollenden Graubärte, das Schifferl in voller Fahrt, selbst der verwaschene Himmel lösen in mir ein Hochgefühl aus. Das angestrengte Zusammenarbeiten mit Jürgen, um möglichst schnell aus dieser gefährlichen Ecke der Welt zu verschwinden. Zu sehen und zu spüren, wie LA BELLE EPOQUE ihre stärkste Seite hervorbringt. Eins mit ihr zu werden.
Dafür sind wir in den Nordatlantik gekommen!
Einziger Wermutstropfen: Die Freiheit des Arktischen Tages liegt hinter uns. Mit jeder Meile in den Süden werden die Nachtstunden länger.
An der Nordküste der Fäaeroer Inseln wird es noch einmal richtig anstrengend. Schwere Strömungen werfen steile Seen auf und machen das Steuern zur Tortur. Mit Stärke 7 treibt uns halber Wind immer weiter. Hastig hinuntergeschlungene Tortillas mit Käse ist alles, was die Bordküche an diesem Tag hergibt.
Das Wetter soll für die nächsten beiden Tage so bleiben.
Trotzdem ziehen wir weiter. Oder gerade deshalb ziehen wir weiter. Wir jubeln. Wir haben nicht erwartet, bereits jetzt schon Kurs nach Lerwick legen zu können.
Allerdings: Wie grob wird sich der Seegang entlang der Shetlandinseln aufstellen? Immerhin ist auch dieses Revier von extremen Gezeitenströmen geplagt. Ich mache mir etwas Sorgen.
Doch auch das ist nichts Neues. Ich mache mir eben immer etwas schneller Sorgen. Und oft genug ohne Grund.
Auch diesmal ist es so: Noch bevor wir die Shetlandinseln erreichen, legt der Wind eine kurze Pause ein und flaut langsam ab. Mit gemütlichen 4 Beaufort laufen wir in den Yell Sund ein. Wir erreichen den Sund perfekt bei kenternder Strömung. Zwar laufen wir damit nicht in Gefahr, Grundseen vor der Küste zu erleben, aber leider setzt gerade die Ebbe ein. Und damit läuft das Wasser im Sund gegen uns.
Bald müssen wir den Motor starten, um überhaupt noch vorwärtszukommen. Und auch das hilft nicht viel. Denn seit geraumer Zeit will unsere Schiffsschraube nicht mehr richtig arbeiten.
Der Propeller panscht mehr im Wasser herum, als uns wirklich voranzutreiben. Und das, obwohl wir die Schiffsschraube letzten Sommer überarbeiten haben lassen. Zurück in Deutschland werden wir später das Problem herausfinden. Doch für jetzt müssen wir uns Gedulden und an der schwierigsten Stelle mit kaum noch einen Knoten Fahrt durch den Sund schleichen.
Irgendwann erreichen wir Lerwick und machen am Victoriasteg direkt vor der Altstadt fest. Draußen hat der Wind wieder zugelegt und zürnt mit 8 Beaufort über die Nordsee.
Uns kanns nicht weniger stören. Bei Fish´n´Chips und einer Dose Ossian feiern wir unsere geniale Nordatlantik-Crossing!